Friedensbewegung und Konferenzdiplomatie nach dem INF-Vertrag

von Rüdiger Schlaga

Keine Frage, das herausragende (Medien-)Ereignis des Jahres 1987 war die Unterzeichnung des Abkommens. über die weltweite Beseitigung aller landgestützten Mittelstreckenraketen.

Damit wird zum ersten Mal in der Geschichte· des Rüstungswettlaufs mit Hilfe eines Vertrages eine ganze Kategorie modernster, strategisch bedeutsamer Waffen abgerüstet. Die Kontrollabmachungen sind sensationell weitgehend. Es werden nämlich nicht nur die Vernichtung der Bestände vor Ort überwacht, sondern auch die Nicht-Produktion von Nachfolgesystemen.

Das INF-Abkommen rundum also ein großer Erfolg der neuen Gipfel- und Pendeldiplomatie zwischen Ost und West? Wohl schon - gäbe es nicht einen unangenehmen Beigeschmack. Die große Euphorie nach dem INF-Abkommen verflog sehr schnell. Denn in den Bereichen, in denen gleichfalls weitreichende Abschlüsse erwartet wurden, herrscht Stillstand. Hier seien vor allem genannt:
- Die UNO-Abrüstungskonferenz in Genf hat es nicht vermocht, ein Abkommen zur weltweiten Ächtung chemischer Waffen unter Dach und Fach zu bringen, obwohl sogar nach Ansicht Bundesaußenminister Genschers die notwendigen Vorbedingungen erfüllt waren.
- Auch das START-Abkommen zwischen der USA und der UdSSR mit der angekündigtem 50%igen Verminderung aller Interkontinentalraketen läßt unvermindert auf sich warten.
- Der Abschluß eines umfassenden Atomteststopps ist in weite Feme gerückt.

Schließlich diskutiert die NATO - teilweise gilt es schon als beschlossene Sache - die "Modernisierung" der Nuklearwaffen mit Reichweiten. bis 500 km, und die USA stationieren immer mehr see- und luftgestützte Marschflugkörper. Beides geschieht mit der kaum noch verschleierten Absicht, das Jahrhundertereignis INF-Abkommen'' zu unterlaufen.

Betrachtet man nun die internationale Szene, so bleibt neben den eher atmosphärischen Verbesserungen der Beziehungen zwischen den Supermächten im "Hardware-Bereich von Abrüstung nicht viel übrig. Hier heißt es wohl erst einmal abzuwarten, wie die Außen und Rüstungskontrollpolitik des zukünftigen US-Präsidenten aussehen wird, aber auch, ob sich der Reformprozeß in der Sowjetunion fortsetzt und die flexible Außenpolitik der Gorbatschow-Administration beibehalten wird.

Für die Europäer und damit für die Bundesrepublik Deutschland existiert lediglich in Wien mit der KSZE z.Zt. ein Forum, auf dem eigene Interessen vertreten werden können. Auf zwei Ebenen beschäftigt. man sich dort mit Fragen der Rüstungskontrolle und der militärischen Vertrauenbildung. Zum einen geht es um die Fortsetzung der Konferenz über Vertrauenbildung und Abrüstung in Europa, kurz: KV AE, die im September 1986 mit Beschlüssen u.a. zur gegenseitigen Manöveranmeldung und -beobachtung beendet wurde.

Auf der KVAE II werden nun alle 35 KSZE-Mitgliedsstaaten gleichberechtigt darüber verhandeln, wie die bisherigen Maßnahmen zur Kontrolle und Durchschaubarkeit von Manöverplanung und -durchführung sowie von Truppenbewegungen erweitert und präzisiert werden können. Für Rü-stungsverminderungen hat diese Konferenz allerdings keinen Auftrag. Erheblich größere Schwierigkeiten wird es zu bewältigen geben, bevor die zweite geplante Konferenz über kon-ventionelle Rüstungskontrolle in Europa, kurz: KRK, ihre Verhandlungen aufnehmen kann. Obgleich auch sie unter dem Dach der KSZE angesiedelt ist, sind allerdings nur die 23 Mitgliedsstaaten von NATO und WVO teilnahmeberechtigt. Aufgabe der KRK - wobei hier über noch keine Einigkeit zwischen Ost und West besteht - soll sein, Einsatzräume, Waffenverbände und vor allem Militärstrategien zu diskutieren und so zu verändern, daß letztlich keines der Bündnisse mehr in der Lage sein wird, eine Angriffsfähigkeit zu bewahren oder unbeobachtet aufzubauen und gar einzusetzen.

Doch wo bleibt bei alledem die Friedensbewegung? Sie spielt ganz offensichtlich. keine Rolle! Ein wichtiger Grund ist sicherlich, daß in ihren Reihen der Eindruck verbreitet ist, daß man sich doch auf die Sowjetunion und Gorbatschow verlassen könne, wenn die Verhandlungen wieder stagnieren sollten. Dies erscheint mir allerdings als ein verhängnisvoller Trugschluß. Auch Gorbatschow kann nur so weit gehen, wie es das Sicherheitsestablishment der UdSSR zuläßt, wie es die Sicherheitsbedürfnisse nicht allein der Militärs, sondern auch der Bevölkerung erlauben. Außerdem ist auch Gorbatschow Machtpolitiker, der an der Spitze der zweiten Supermacht steht, und keineswegs ein Pazifist schon allein deshalb sind seine Vorstellungen viel stärker von militärischen und Machtinteressen geprägt, als dass jemals der Friedensbewegung recht sein kann. Und von westlichen Regierungen ist angesichts deren unübersehbarer Zähigkeit und Hartleibigkeit noch weniger etwas zu erwarten. Mit anderen ~Worten, die Friedensbewegung muss sich selbst bewegen und kann nicht · davon ausgehen, daß andere ihre Arbeit übernehmen. Daß jedoch die Beschäftigung mit Konferenzdiplomatie Sache der Friedensbewegung sein sollte, dem widerspricht die Erfahrung aller Friedensbewegungen seit 1945.

Bewußtsein der Bevölkerung verändert sich nicht über Appelle an die Regierenden, sondern allein über eigenes Erfahren und Handeln. Und wenn schon das Feld der Diplomatie beackert werden soll, dann doch auf der einer sozialen Bewegung eher entsprechenden Ebene, nämlich der einer "Bürgerdiplomatie" und Entspannungspolitik von unten. Neue Bündnisse zu schaffen und alte zu vertiefen, Solidarität zwischen autonomen Friedensbewegungen in Ost und West praktizieren, Aktionen über die Blockgrenzen hinweg, da liegen die Aufgaben und die Chancen. Wenn sich etwas im Bewußtsein und den Köpfen der Bevölkerung bewegt, dann bewegt sich auch etwas an den Konferenztischen der Diplomaten.
 

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Rüdiger Schlaga ist Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Kon¬fliktforschung in Frank¬furt