Friedensherbst - ja, aber lasst nun tausend Projekte blühen

von Andreas Buro

Ich staune immer wieder, mit welcher Fülle von Aktionen auf regionaler und lokaler Ebene die Friedensbewegung nach wie vor auftritt. Dabei variieren Aktionsformen wie auch Inhalte. Das ist gut so, geht es doch darum, die Themen aufzugreifen, die im jeweiligen Bewußtsein und nach den lokalen Gegebenheiten die Menschen besonders beschäftigen.

Inhaltlich hat in diesem Jahr die Friedensbewegung eine sehr erfreuliche Ausweitung erfahren. Man hängt jetzt nicht mehr nur an einem Waffensystem, das abgeschafft werden sollte, nein, das ganze Abschreckungssystem gerät zunehmend - und zwar mehr oder weniger von fast allen Fraktionen innerhalb der Friedensbewegung - unter Kritik. Unter dem Stichwort 'positiver Friede' wird darüber hinaus das für uns so wichtige· Thema aufgegriffen, wie denn Friede in Europa, der politisch durch Verständigung und Kooperation, nicht aber durch gegenseitige Bedrohung gesichert ist, gestaltet werden könnte.

Die Bedingungen für Friedensarbeit sind heute günstiger denn je: die sowjetischen Abrüstungsvorschläge vermindern das antikommunistische Feindbild und die Bedrohungsängste in unserer Gesellschaft; weitere Aufrüstung findet .kaum Verständnis in der Bevölkerung; die Fixierung der Menschen. auf die USA als großem über Ich verringert sich; kalte Krieger und Militaristen finden im Bewußtsein der Bevölkerung. kaum noch Nährboden,' im Gegenteil! Selbst einseitige Abrüstungsschritte werden von der Mehrheit nicht mehr abgelehnt; die sozialen Bewegungen verfügen über eine weit verzweigte und vielfach vernetzte Infrastruktur, die in angesehene Berufs-. zweige und auch durchaus in den Kern der Gesellschaft hineinreicht.

Trotzdem ist es der Friedensbewegung nicht gelungen, zu einer Revitalisierung in der fokalen und berufsspezifischen Arbeit auf breiter Basis zu · kommen. Dies aber ist die zentrale Voraussetzung, um wirkungsvoll auf die politischen, gesellschaftlichen und militärischen Entwicklungen Einfluß nehmen und um soziales Lernen über politisches Engagement vorantreiben zu können.
Die wichtigsten Ursachen für diese paradoxe Situation sind m. E.:
- das Gefühl aktueller Bedrohung ist geschwunden;
- das Wunschdenken, die Regierungen würden nun konsequent für Abrüstung sorgen, gestattete vielen, sich mit gutem Gewissen .aus der · ungeliebten Oppositionsrolle zurückzuziehen und sich damit psychisch und zeitlich zu entlasten. Das hat nichts mit einer Änderung der grundsätzlichen Einstellung zur Abrüstung zu tun. Erst bei hautnaher eigener Betroffenheit, wie· z. B. durch Tiefflieger, erfolgt eine Reaktivierung.

Die Friedensbewegung muß sich deshalb viel mehr als bisher auf die psychische Situation der Friedensbewegten einlassen, um deren Reaktivierung zu erreichen. Mit der nur 'real-politischen Aufgabenstellung' ist es nicht getan! Die. höchst unterschiedlichen Felder von Betroffenheit und Interesse sind aufzugreifen, und zwar auch unter Berücksichtigung der Arbeitsfelder anderer · sozialer Bewegungen. Die Friedensinitiativen müssen nicht nur Protest organisieren; .. sondern auch interessante, · anregende und für die sich Beteiligenden als angenehm und wichtig empfundene Aufgaben und Projekte entwickeln, die zu kontinuierliche Gruppenarbeit führen. Neben anderen Feldern kann das wichtige Thema 'Versöhnung mit der Sowjetunion und mit den anderen osteuropäischen Ländern hierfür z. B. viele Ansatzpunkte bieten. Die ständige Veröffentlichung von Projekterfahrungen kann zur Anregung für viele andere Initiativen werden. Der Wert solcher Arbeiten Und Projekte liegt . nicht nur in sich selbst. 'Durch sie kann auch wieder lebendige und· breite, lokale, regionale und berufsspezifische Arbeit der Friedensbewegung gelingen. Erst. wenn aus höchst unterschiedlichen und sich mit anderen sozialen Bewegungen verbindenden Projekten und lokalen Auseinandersetzungen größere Konflikte mit allgemeinen Perspektiven werden, ent. steht eine Grundlage für erneute allgemeine Mobilisierung.

Meine Schlußfolgerung aus dem Friedensherbst 1988 lautet deshalb; 'Laßt tausende von Projekten sich entfalten'!

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