Friedenspolitik in Afghanistan

von Otmar Steinbicker
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege
( c ) Netzwerk Friedenskooperative

„Die Afghanistanpolitik ist gescheitert“, so lautet die erste zentrale Feststellung im Friedensgutachten 2010. Es gibt wohl kaum noch jemanden, der das ernsthaft bestreiten will. Die Frage: Welche Alternativen gibt es und welche Erfolgsaussichten und Probleme bergen verschiedene denkbare Varianten?, nimmt daher dort den größten Raum ein.

Auffällig ist allerdings, dass die im Friedensgutachten erörterten Vorschläge für mögliche Konfliktlösungen sowohl in den Fragestellungen wie in den Kriterien für deren Beantwortung stark auf unseren westlichen Vorstellungen beruhen. Sie berücksichtigen meines Erachtens zu wenig die für uns fremde afghanische Kultur und die historischen Erfahrungen des afghanischen Volkes mit Kriegen, Konflikten und Konfliktlösungen.

Gegensätze und Konflikte – auch blutige Konflikte – durchziehen die afghanische Gesellschaft nicht erst seit den letzten 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg. Die Afghanen haben im Laufe der Jahrhunderte eigene, für sie funktionierende Formen ziviler Konfliktlösung gefunden, die aus unserer Sicht vielleicht archaisch anmuten, aber immer lösungsorientiert und oftmals zumindest temporär erfolgreich waren – wie ja auch die deutschen und europäischen Friedensschlüsse bis 1945 allenfalls temporär erfolgreich waren.

Die traditionellen Gegensätze und Konflikte innerhalb der afghanischen Gesellschaft sind bekannt. Daher will ich sie hier nur stichwortartig nennen:

• Gegensatz zwischen städtischer „Moderne“ und ländlichem „Mittelalter“

• Konflikte zwischen verschiedenen Nationalitäten

• Konflikte zwischen verschiedenen Stämmen innerhalb der Nationalitäten mit häufig wechselnden Koalitionen, auch zwischen Familien innerhalb der Stämme.

Aber es gibt auch ebenso traditionelle Formen ziviler Konfliktlösungen. Das waren und sind vor allem Versammlungen (Jirgen) von den Dorfältesten bis zu den Stammesführern der großen afghanischen Stämme. Sie haben es in Jahrhunderten blutiger Auseinandersetzungen gelernt, Konflikte durch Verhandlungen und Kompromisslösungen zu beenden. Diese Variante von Konfliktlösung gehört also zum unmittelbaren Kern der afghanischen Kultur. Jeder Afghane kennt sie und weiß damit umzugehen, gleich ob er zur Nordallianz oder zu den Taliban, zu dieser oder jener Nationalität, zu diesem oder jenem Stamm gehört.

Für Historiker ist dabei sicherlich erstaunlich: Bei allen schweren Konflikten, die die afghanische Zivilgesellschaft seit Jahrhunderten durchziehen, ist es ausländischen Mächten niemals gelungen, dauerhaft eine Herrschaft über Afghanistan zu sichern. Nicht einmal das britische Kolonialreich, das wie kein anderes eine wahre Meisterschaft entwickelt hatte, in seinen Kolonien unterschiedliche Volksgruppen gegeneinander aufzubringen, um so die Herrschaft besser sichern zu können, hatte in Afghanistan Erfolg. Gegen solche Spaltungsversuche standen eine starke Verankerung des Islam und ein afghanisches Nationalgefühl. Die Verbindung von beidem hielt trotz der starken und vielfältigen Konflikte die Gesellschaft zusammen.

Die Nationale Friedens-Jirga Afghanistans
Die am 8./9. Mai 2008 von mehr als 3.000 vorwiegend paschtunischen Stammesführern, Abgeordneten und Intellektuellen gegründete Nationale Friedens-Jirga Afghanistans – nicht zu verwechseln mit der von Präsident Karsai einberufenen „Friedens-Jirga“ – knüpfte bewusst an diese afghanische Tradition der Konfliktlösung an. Diese Stammesführer, die die kriegsmüde Bevölkerung vor allem des Südens und Ostens repräsentieren, formulierten als Ziel eine Verhandlungslösung für Afghanistan, die alle Teile der afghanischen Gesellschaft inklusive der Taliban einbezieht sowie den Abzug der ausländischen Truppen. An der Gründung dieser Nationalen Friedens-Jirga Afghanistans nahmen als Gäste auch ausländische Diplomaten, darunter Vertreter der Deutschen Botschaft teil. Im Juli 2009 versicherte der damalige UNO-Repräsentant in Afghanistan, Kai Eide, der Nationalen Friedens-Jirga Afghanistans seine Unterstützung.

Zum 1.9.2008 verabschiedeten die Nationale Friedens-Jirga Afghanistans und die deutsche Kooperation für den Frieden, der Zusammenschluss von mehr als 50 der größten deutschen Friedensorganisationen und -initiativen, eine gemeinsame Erklärung. Darin wurden auch  Forderungen und Vorschläge an die Bundesregierung formuliert:

• keine weiteren Kampfhandlungen auf dem Territorium Afghanistans. Die Zahl der in Afghanistan stationierten Bundeswehrsoldaten darf nicht erhöht werden, sondern es muss eine konkrete Planung mit festen Daten für einen raschen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan vorgelegt werden.

• durch eigene Schritte, eventuell gemeinsam mit anderen europäischen Regierungen, islamischen und blockfreien Ländern, in Gesprächen mit den unterschiedlichen Gruppierungen der afghanischen Opposition einschließlich der Taliban und mit der afghanischen Regierung eine neue Tür für Verhandlungen öffnen und einen Verhandlungsprozess nach Kräften zu fördern.

• zivile Hilfe je nach Bedarf bis zu dem Betrag aufzustocken, der durch den Abzug der Truppen frei wird.

• durch eigene diplomatische Schritte, eventuell gemeinsam mit anderen europäischen Regierungen, islamischen und blockfreien Ländern die Perspektive einer internationalen Konferenz Afghanistans und seiner Nachbarstaaten (Pakistan, Iran, Usbekistan, Tadschikistan u.a.) zu eröffnen, um die Souveränität Afghanistans wiederherzustellen und einen Weg zu Frieden und Sicherheit in der Region zu ebnen. Vor allem Staaten wie Indien, China, Russland, USA, die europäischen Länder sowie die Islamische Konferenz und blockfreie Länder müssen als Beobachter und Garantiemächte an einer solchen Konferenz teilnehmen, um künftige Interventionen auszuschließen.

Im Anschluss an diese Erklärung gab es Bemühungen der Nationalen Friedens-Jirga Afghanistans, die Taliban im Raum Kunduz für einen Waffenstillstand zu gewinnen, um die Bundesregierung, wie von uns gewünscht, für eine Moderation von Verhandlungen zwischen den afghanischen Konfliktparteien zu gewinnen. Ab März 2009 gab es Zusagen der Taliban zu einem solchen Waffenstillstand im Raum Kunduz. Leider zeigte das Auswärtige Amt damals daran kein Interesse.

Über einen eigenen Vorstoß des regionalen Taliban-Kommandeurs Qari Bashir im Mai 2009 berichtete mir kürzlich ein deutscher Journalist. Bashir hatte ihn damals angerufen und auch ein Treffen organisiert, bei dem er diesen bat, einen Kontakt zur Bundeswehr in Kunduz zu vermitteln, um über den von uns gewünschten Waffenstillstand zu sprechen. Der Journalist teilte damals Oberst Georg Klein den Wunsch Bashirs mit, aber Klein hielt das Gesprächsangebot für nicht glaubwürdig.

Regionaler Waffenstillstand in Kunduz?
Am 31.7.2009 veröffentlichten die Nationale Friedens-Jirga Afghanistans und die Kooperation für den Frieden eine weitere gemeinsame Erklärung mit einem Vorschlag für einen regionalen Waffenstillstand für Kunduz und verwiesen dabei auf ihre Erfahrungen im Bemühen um eine Waffenstillstandsvereinbarung.

Unmittelbar nach dem Bombardement der Tanklaster bei Kunduz stieß unser Waffenstillstandsvorschlag auch in hohen NATO-Kreisen auf Zustimmung. Vor diesem Hintergrund gelang es, den Taliban-Kommandeur Qari Bashir für einen einseitigen Waffenstillstand im Raum Kunduz zu gewinnen, der bis Anfang November 2009 hielt. Die Quetta Shura um Mullah Omar wurde ebenfalls kontaktiert und zeigte sich bereit, einen solchen Waffenstillstand gegebenenfalls auf ganz Afghanistan auszudehnen. Leider konnten sich die Befürworter des Waffenstillstands innerhalb der NATO damals nicht durchsetzen.

Wie der „Spiegel“ bei der Lektüre der von Wikileaks veröffentlichten NATO-Dokumente herausfand, ließ die Bundeswehr in Kunduz Qari Bashir auf die NATO-Fahndungsliste („zur Ergreifung“) setzen. Bashir wurde Anfang November 2009 bei einer Aktion von Spezialkräften der US-Armee und der afghanischen Armee getötet. Trotz des Scheiterns dieser Initiative konnten informelle Kontakte zu beiden Seiten der Konfliktparteien aufrechterhalten werden. Das bot die Chance, weiterhin zu sondieren. 

Dabei zeigte sich, dass auch nach der Verhaftung des verhandlungsbereiten Mullah Barader durch den pakistanischen Geheimdienst und der Neubildung der 18-köpfigen Führungsgruppe der Quetta Shura die Diskussion über Verhandlungslösungen dort positiv weiter ging.

Bei Sondierungen zeigte sich, dass es bei der Quetta-Shura Entwicklungen gegeben hat, nicht nur weg von Al Quaida und dem ISI, sondern auch weg von der Rechtfertigung der schrecklichen Herrschaftspraxis vor 2001. Vorsichtige Bewegung gab es sogar im Hinblick auf Frauenrechte. So hat Mullah Omar in seiner jüngsten Botschaft zum Ramadan zum ersten Mal das Wort „Frauenrechte“ formuliert, wenn auch eingeschränkt auf „islamische“ und ohne weitere Definition. Gegenüber ISAF hat die Quetta Shura inzwischen versichert, keine Mädchenschulen angreifen zu lassen.

Die Möglichkeit von Positionsveränderungen bei der Quetta Shura verbesserte zugleich die Möglichkeiten für eine Kommunikation mit ISAF. Inzwischen gibt es durch unsere Initiative Gespräche zwischen beiden Seiten und Anzeichen, dass konstruktiv an Lösungsmöglichkeiten gearbeitet wird, auch wenn in beide Richtungen kritische Fragen offen bleiben.

Wie könnte ein Lösungsansatz im Groben aussehen?
1. In einer Provinz Afghanistans wird eine gemeinsame Verwaltung unter Einschluss von Taliban und von Vertretern der Karzai-Regierung unter Beobachtung der ISAF vereinbart. Es werden gemeinsame Sicherheitsstrukturen gebildet und gegen Korruption und Drogenanbau vorgegangen. Ein Waffenstillstand ist dabei selbstverständlich Voraussetzung. Dieser Vorschlag knüpft an den regionalen Ansatz unseres Waffenstillstandsvorschlages von 2009 an.

Für ganz Afghanistan wird eine Übergangsregierung unter Einschluss der Taliban und der Vertreter der Karzai-Regierung (inklusive Nordallianz) gebildet. Diese Übergangsregierung bleibt für zwei Jahre im Amt und bereitet Wahlen vor. Die Taliban formieren sich in diesem Zeitraum als politische Partei und nehmen an den Wahlen teil. Die internationalen Truppen werden in der Zeit der Übergangsregierung abgezogen.

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de