Beispiele aus dem gewaltlosen Widerstand gegen die Besetzung des Ruhrgebietes 1923

Handlungskompetenz in Sozialer Verteidigung

von Barbara Müller
Schwerpunkt
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Gewaltfreie Alternativen zur militärischen Konfliktaustragung brauchen die Unterstützung durch weite Teile der Bevölkerung und mitunter eine Beteiligung großer Massen. Über die gesellschaftlichen und individuel­len Voraussetzungen ist viel nachgedacht worden. Ein Punkt ist m.E. dabei zu Unrecht in den Hintergrund getreten: es gibt eine sich wan­delnde, gesellschaftsimmanente Kompetenz zu einer zivilen Kon­fliktaustragung, auf die in Konflikten, die nichtgewaltsam ausgetragen werden, ad hoc zurückgegriffen wird. Dazu einige Beispiele, die mir bei der Untersuchung des gewaltlosen Widerstands der Ruhrbevölkerung gegen die Besetzung des Ruhrgebiets 1923 aufgefallen sind.

Die Besetzung vollzog sich so, daß bin­nen weniger Tage die ganze Region von kriegsmäßig ausgerüsteten Truppen durchquert und eine Grenzlinie zwi­schen dem Ruhrgebiet und dem unbe­setzten Gebiet mit Straßensperren etc. gezogen wurde. Deutscherseits war das Ruhrgebiet entmilitarisiert, militärischer Widerstand war von vorneherein durch die politische und militärische Führung ausgeschlossen und an Sabotage zen­traler Verkehrslinien im Vorfeld der Be­setzung nicht frühzeitig gedacht worden. Die Besatzungstruppen wurden in Ort­schaften und Städten einquartiert. Die Bevölkerung war dem Zugriff der Be­satzungsmacht ausgeliefert, die nach Strategie und Zutrauen (!) ihre gewalt­samen Unterdrückungsmittel zuneh­mend einsetzte mit Straßen- und Ver­kehrssperren, Besetzung und Lahmle­gung von Verwaltungen, Verhaftungen, Vertreibungen, Auferlegung und Kon­fiszierung von Geldvermögen. Leib und Leben, Hab und Gut waren dem gewalt­samen Zugriff ausgesetzt. Grob gespro­chen, wurde gegen diese Unterdrückung die Strategie der Nichtzusammenarbeit gesetzt. Diese konnte neun Monate durchgehalten werden, bis die Erschöp­fung der eigenen Ressourcen zur Ein­stellung des Widerstands und zum Übergang auf eine Konfliktaustragung mit diplomatischen Mitteln und Rechts­vorbehalt führte.

Interessant ist in diesem Zusammen­hang, daß am Anfang der Besetzung un­klar war, ob es zu einem nennenswerten Widerstand weiter Bevölkerungsteile tatsächlich kommen würde. Innerhalb der ersten neun Tage der Besetzung wurde die massenhafte Beteiligung am Widerstand erreicht, indem eine Eskala­tionskette zwischen widerstandsbereiten Kräften auf deutscher Seite und den Be­satzungsmächten in Gang kam - und die Frage der Freiwilligkeit / Widerstands­bereitschaft sollte vor dem Hintergrund dieser typischen Reaktionsweise disku­tiert werden. Ereignisse wie die Ver­haftung führender Beamter und Zechen­besitzer und der Prozess gegen sie schu­fen jedenfalls die Kristallisationspunkte, die die Gewerkschaften und weite Be­völkerungskreise an die Seite von Ruhrindustriellen und Zechenbesitzern brachte. Das Umschwenken der Besat­zungsmächte von Verhandlung auf Re­pression konfrontierte schlagartig viele bis dahin unbehelligte Bevölkerungs­gruppen mit der Gewalt der Besatzer und stellte sie vor die Wahl: nachgeben oder...?

Jetzt griffen die Angegriffenen auf die Mittel ihrer Wahl zurück, in der Haupt­sache bewährte gewerkschaftliche Kampfmittel: zeitlich befristete Streiks, um den Abzug fremder Soldaten zu er­zwingen, um verhaftete Kollegen frei­zukämpfen oder um in Bedrängnis ge­ratene Beamte oder Angehörige anderer Berufs- oder Personengruppen zu unter­stützen. In der Verwaltung war neben dem Protest und dem Hinweis auf die Unzuständigkeit auch das "Versacken­lassen" von Anordnungen häufig.

Glasklar war im Ruhrgebiet das Wissen von der Abhängigkeit des Spezialwis­sens verbreitet, das im Verkehrsbereich wie in den Zechenbetrieben die Voraus­setzung des Funktionierens war. Inner­halb vieler besetzter Städte entstanden Räte, in denen verschiedene Bevölke­rungs- und Berufsgruppen zusammenar­beiteten, um ihre Widerstandsaktionen abzustimmen und ihre Sichtweisen ab­zuklären. Vorläufer solcher übergrei­fender Zusammenarbeit waren die Ar­beiter- und Soldatenräte der unmittelba­ren Nachkriegszeit. Heute würden wir "Runde Tische" dazu sagen.

Die Grenzsperre wurde in den ersten Monaten durch einen lebhaften Schmuggel weitgehend ausgeschaltet.

Die Grenzen des Widerstandsrepertoires wiederum werden daran deutlich, daß die Besatzung im Laufe der Monate einen Bahntransport in gewissem Um­fang aus eigener Kraft aufbauen konnte, ohne darin gehindert zu werden. Eine andere Schwierigkeit bestand in der Es­kalationsgefahr, wenn bewaffnete Sol­datentrupps auf größere Bevölkerungs­gruppen trafen. Die meisten Todesopfer gab es in solchen Situationen, wenn Soldaten meinten, sich den Weg jetzt freischießen zu müssen. Im Laufe der Zeit schließlich wurde durch die scharfe Bewachung auch die Grenzsperre zu ei­ner wirklich fast undurchdringlichen hermetischen Mauer, was den Wider­stand zur Jahresmitte erheblich schwächte. Hier gab es offenbar keine wirksamen Mittel gegen diese Unter­drückungsmechanismen.

Bei dieser Aufzählung wird indessen klar, daß seit den 20er Jahren die Kom­petenz im Widerstandsverhalten ge­wachsen ist. Denkt man an die Massen­aktionen in Rheinhausen oder auch an die Vielzahl von Aktionen Zivilen Un­gehorsams zur Zeit der Raketendebatte, wird deutlich, daß mit diesen Aktivitä­ten auch die Vermittlung von Organisa­tions-, Handlungskompetenz und die Fähigkeit zur Eskalationskontrolle ver­bunden war.

Die wichtigen taktischen Fehler im Wi­derstand betrafen nicht einmal das Wi­derstandsverhalten, sondern resultierten aus der Unfähigkeit, richtige Schritte gegenüber den Spezialinteressen von Kommunalverwaltungen, Zechen und Ministerien durchzusetzen. Daran scheiterte die Chance, die Kohlen, die im besetzten Gebiet weiterhin gefördert wurden, in den Kellern der Bevölkerung verschwinden zu lassen, anstatt hilflos mitansehen zu müssen, wie die Besat­zungsmächte sich diese mit Gewalt ver­schafften. Die Realisierung dieser Chance hätte die Effizienz des Wider­stands drastisch erhöht und die materi­elle Widerstandsfähigkeit der Bevölke­rung entscheidend stärken können.

Schließlich scheiterte das erste großan­gelegte, unfreiwillige Experiment mit zivilen Widerstandsmethoden an einer verfehlten diplomatischen Konzeption und der mangelnden Mobilisierung wirtschaftlicher Ressourcen. Auf die Schieflage der deutschen Diplomatie hatten bereits früher als andere Pazifi­stInnen (Ludwig Quidde und Helene Stöcker) hingewiesen und die Gewerk­schaften, die sich in diesem Kampf auf­rieben, vergeblich gedrängt, Position zu beziehen. Sie bewiesen damit eine tie­fere Einsicht in die machtpolitischen Zusammenhänge, aber auch in die Chancen zu wirklicher Verständigung, die im Ruhrkampf vorhanden waren, aber nicht zum Zuge kamen.

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Barbara Müller ist Vorsitzende des Bundes für Soziale Verteidigung, Mitarbeiterin im Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung und Mitglied des Initiativkreises der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung