Kirchentag 1997 Leipzig

von Gottfried Müller
Initiativen
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Vom 18. - 22. Juni fand der Evangelische Kirchentag in Leipzig statt. Zum ersten Mal nach der Wende war eine Stadt in den neuen Bundesländern Veranstaltungsort des größten evangelischen Treffens. Wie bei den vorangegangenen Kirchentagen gab es auch dieses Mal für alle Gruppen und Initiativen die Möglichkeit, ihre Arbeit an drei Tagen im Neuen Messegelände darzustellen.

Auffallend an dem diesjährigen Kirchentag war, daß die KirchentagsteilnehmerInnen von den LeipzigerInnen nicht nur freundlich aufgenommen wurden. Am Bahnhof, dem Nadelöhr für alle Fahrten zum Alten oder Neuen Messegelände bzw. zu den zahlreichen anderen Veranstaltungsorten, waren morgens angesichts der massiv überfüllten Straßenbahnen und dem Gedränge in den Bahnen mehrfach verärgerte Äußerungen von LeipzigerInnen zu hören wie: "Hoffentlich ist das Kirchentags-Pack bald wieder weg."

Im Neuen Messegelände nutzten ca. 700 Gruppen und Initiativen die Chance, ihre Arbeit der großen KirchentagsbesucherInnen-Schar vorzustellen.

Dabei gab es in einigen Bereichen sehr kontrastreiche Gegenüberstellungen:

Neben den Antiatomkraft-Gruppen aus Gorleben und Bremen standen die Atomkraft-Befürworter von Siemens und den Energieversorgungsunternehmen.

Ähnlich sah es in Halle 4 aus, wo die Friedensgruppen, die die Bundeswehr ablehnen und für ihre Abschaffung arbeiten, neben den Militärpfarrern standen. Die Obertoleranz der christlichen Kirche machts möglich, obwohl nach dem 5. Gebot: "Du sollst nicht töten!" und dem Gebot der Feindesliebe dieser Kontrast eigentlich nicht zulässig sein sollte.

Bei den Friedensgruppen hatten sich Gruppen wie die Bürgerinitiative FREIe HEIDe, der Christliche Friedensdienst, DFG-VK-Gruppen und die Kampagne gegen Rüstungsexport zur Kooperation Bundesrepublik ohne Armee zusammengeschlossen. Die Friedenswerkstatt aus Kiel bot Beratung für Kriegsdienstverweigerer an. Im Gegensatz zu den vorherigen Kirchentagen kamen dieses Mal wesentlich weniger Jugendliche, um sich über die Kriegsdienstverweigerung zu informieren. Dies entspricht dem bundesweiten Trend in allen Beratungsstellen für Kriegsdienstverweigerer.

Sehr kontrovers liefen am Stand viele Diskussionen über unsere Forderung, die Bundeswehr so schnell wie möglich abzuschaffen. Hier spiegelt das Kirchentagspublikum zur Zeit sehr identisch die allgemeine öffentliche Meinung wider. Mit der gleichen Stimmung werden gegenwärtig alle Friedensgruppen bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit konfrontiert.

Während vor zwei Jahren beim Kirchentag in Hamburg noch allseits Entsetzen und Ratlosigkeit über die Greueltaten im ehemaligen Jugoslawien herrschte, empfinden jetzt viele Menschen den Nicht-Krieg in Ex-Jugoslawien als Frieden und glauben, daß die Bundeswehr der große Friedensstifter in der Region sei. Allen Bundeswehr-Befürwortern war nicht bewußt, daß die Bundeswehr in Ex-Jugoslawien keinerlei Versöhnungsarbeit zwischen den verfeindeten Kriegsparteien leistet. So mußte immer wieder der Vergleich mit einer Käseglocke (= militärische Präsenz) herhalten, die auf dem Kriegsgebiet ruht. Unter dieser Käseglocke haben sich "dank" des Dayton-Vertrages alle Kriegsparteien wieder bis an die Zähne bewaffnet. Wird die Käseglocke durch den Abzug der Miltitärs weggenommen, besteht die riesige Gefahr, daß das Feuer des Krieges wieder in vollem Umfang auflodert, eben weil Militär grundsätzlich nicht dazu da ist, Versöhnungsarbeit zu leisten und die NATO kein Versöhnungsinstrument ist. So steht zu befürchten, daß der Militäreinsatz in Ex-Jugoslawien vielleicht Monate, Jahre oder wie auf Zypern 30 Jahre dauern könnte. Ohne zivile Versöhnungsarbeit wird es in Ex- Jugoslawien jedenfalls keinen dauerhaften Frieden geben. Um dieses Thema drehten sich fast alle Diskussionen.

Die Behauptung "Wenn wir die Bundeswehr abschaffen, haben wir noch einmal 500.000 Arbeitslose mehr!" wurde gebetsmühlenartig häufig vorgetragen. Die Bundeswehr wird angesichts der immer weiter steigenden Arbeitslosigkeit von immer mehr Menschen als normaler Arbeitgeber angesehen.

Insgesamt entstand bei den Friedensgruppen beim Kirchentag in Leipzig der Eindruck, daß die Bundeswehr durch eine sehr ausgefeilte Salamitaktik ihren Aktionsradius ständig ausweitet und selbst zwei tote Bundeswehrsoldaten in Ex-Jugoslawien nicht zum Aufwachen der Bevölkerung führen. Der Tirana- Blitzeinsatz der Bundeswehr mit erst anschließender Befragung und Billigung des Bundestages stieß nicht auf Skepsis oder Ablehnung.

In Anbetracht der Stimmungslage und des im Vergleich zu früheren Kirchentagen geringeren Interesses am Friedensthema erschien es uns aber dringend notwendig, unsere antimilitaristische Position deutlich zum Ausdruck zu bringen.

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Gottfried Müller ist aktiv in der DFG-VK Kiel und berät dort auch seit 1980 Kriegsdienstverweigerer