Kriegsdienstverweigerung in Europa

von Rudi Friedrich

Verschiedene Organisationen hatten sich in den letzten Jahren bemüht, in den neuen Beitrittsländern der Europäischen Union das Recht auf Kriegsdienstverweigerung durchzusetzen. Wie sieht die Situation kurz vor der Erweiterung der Union am 1. Mai 2004 aus? Welche Folgen wird die neue Militärstrategie der Union für Kriegsdienstverweigerer zeitigen?

Inzwischen gibt es in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine rechtliche Regelung zur Kriegsdienstverweigerung. Von Militär und Staaten wurde dies aber immer als Ausnahmerecht verstanden, das nur denjenigen zusteht, die grundsätzliche Gewissensgründe vorzutragen haben. Entwickelt wurde ein Konzept, das nicht nur die Prüfung von Anträgen vorsieht, sondern auch die Ableistung eines Ersatzdienstes fordert, der in der Regel länger dauert und mit dem die Wehrpflicht erfüllt wird. Um den Ausnahmecharakter durchzusetzen, gibt es in einigen Ländern verschärfte Regelungen, wie die WRI in London oder auch Dick Marty in einem Bericht an den Europarat im Sommer 2003 feststellen: Die Gewissensprüfung wird durch eine Militärkommission vorgenommen (Polen), es werden nur Angehörige religiöser Minderheiten anerkannt (Rumänien), der Ersatzdienst ist als waffenloser Dienst im Militär abzuleisten (Estland) oder dauert wesentlich länger als der Militärdienst (Finnland, Zypern). In einigen europäischen Ländern gibt es nach wie vor kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung, wie beispielsweise in der Türkei, in Mazedonien oder Albanien.

Soweit die Möglichkeit der Verweigerung besteht, wird sie zum Teil in großem Umfang wahrgenommen. So gab es in Estland zwar nur 50 Verweigerer pro Jahr, in der Tschechischen Republik aber mehrere Zehntausend. In Spanien waren es 1999 sogar 180.000.

Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist in keiner internationalen Menschenrechtscharta verankert. Internationale Gremien verweisen stattdessen auf die in den Menschenrechtsabkommen garantierte Gewissensfreiheit. Daraus sei ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ableitbar, so z.B. 1994 das Europaparlament. Aber auch in diesen Beschlüssen wird die Kriegsdienstverweigerung als Ausnahmerecht verstanden, bei dem gleichwohl folgende Kriterien erfüllt sein sollten:

  • ethische, religiöse, humanitäre oder ähnliche Motive sollen anerkannt werden;
  • der Ersatzdienst soll ein waffenloser Dienst mit zivilem Charakter sein und keinen Strafcharakter haben;
  • die Antragstellung soll jederzeit möglich sein, auch von Militärangehörigen;
  • die Informationen über die Antragstellung sollen frei zugänglich sein.

Die oben genannten Länderbeispiele zeigen jedoch, dass diese Kriterien in den meisten Fällen nicht erfüllt werden. Nach wie vor haben die militärischen Belange einen höheren Stellenwert als die Entscheidung einer einzelnen Person.

Dabei werden auch nach der Definition der internationalen Gremien viele Beweggründe zur Verweigerung ausgeschlossen. Die Verweigerung bestimmter Befehle, die Verweigerung bestimmter Einsätze oder bestimmter Kriege oder auch die Verweigerung der Ableistung des Ersatzdienstes kann weiter strafrechtlich verfolgt werden. Davon sind die Bewegungen von Totalverweigerern betroffen, die sich beispielsweise in Schweden oder Deutschland gegen die Einbeziehung des Ersatzdienstes in ein Gesamtverteidigungskonzept oder gegen die Wehrpflicht wenden.

Die Wehrpflicht fällt
Großbritannien hatte die im II. Weltkrieg eingeführte Dienstpflicht bereits 1960 wieder abgeschafft, in Irland und Nordirland hatte sie nie bestanden. Fast alle west- und osteuropäischen Länder hingegen hatten über Jahrzehnte mit der Wehrpflicht junge Männer zu Kriegs- und Ersatzdiensten rekrutiert. Seit 1995 fällt die Wehrpflicht nun auch in Kontinentaleuropa.

Belgien beruft seit 1995 keine Wehrpflichtigen mehr ein, die Niederlande seit 1997. Frankreich und Spanien folgten im Jahre 2002, Slowenien 2003. In weiteren westeuropäischen Staaten ist vorgesehen, die Wehrpflicht auszusetzen oder abzuschaffen: Portugal (2004), Italien (2005), Slowakische sowie Tschechische Republik und Ungarn (2006).

"Der Militärdienstzwang wurde und wird wegen der militärstrategisch gebotenen Umstrukturierung, Modernisierung und Verkleinerung der Streitkräfte aufgegeben", so Gernot Lennert von der DFG-VK. Statt Massenheere zu unterhalten, sind inzwischen hoch-spezialisierte Berufssoldaten und -soldatinnen gesucht, die flexibel und weltweit eingesetzt werden können. Lediglich der spanische Staat hatte sich vor der Entscheidung, die Wehrpflicht abzuschaffen, mit einer starken antimilitaristischen Bewegung auseinandersetzen müssen, die dies einforderte und deren sichtbarster Ausdruck Tausende inhaftierter Kriegsdienstverweigerer waren. In Deutschland wurde zwar bislang die Wehrpflicht nicht ausgesetzt, allerdings ist die Bundeswehr seit 1991 dazu übergegangen, für Auslandseinsätze nur noch SoldatInnen zu verwenden, die sich mit ihrer Unterschrift dazu bereit erklärt haben.

Mit der Aussetzung oder Abschaffung der Wehrpflicht werden viele junge Erwachsene nicht mehr in ein System gezwungen, dass auf militärischen Prinzipien beruht. Sie sind frei von der Ableistung des Militärdienstes - das ist ein wirklicher Fortschritt.

Deutlich schwieriger gestaltet sich die Situation jedoch für Soldaten und Soldatinnen. Die Forderung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in der Empfehlung 1518, "zu jedem beliebigen Zeitpunkt einen Antrag zur Kriegsdienstverweigerung stellen zu können", ist in kaum einem westeuropäischen Land erfüllt. Oft wird die Möglichkeit der Antragstellung zeitlich befristet, in einigen Fällen werden Militärangehörige oder Berufssoldaten von der Antragstellung ausgeschlossen, in anderen Ländern ist die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung auf Friedenszeiten beschränkt. Zu diesen Ländern gehören Bulgarien, Griechenland, Italien, Norwegen, Lettland, Litauen, Österreich, Frankreich, Polen, Serbien & Montenegro, Ungarn, Slowenien, Spanien, Slowakische sowie Tschechische Republik. In Großbritannien gibt es zwar die Möglichkeit der Verweigerung, allerdings werden die Informationen darüber zurückgehalten. Das Verfahren für Marine und Luftwaffe ist nicht bekannt. Dick Marty kommt daher in seinem Bericht für den Europarat zu dem Schluss, dass in einigen Staaten "das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht während des Militärdienstes ausgeübt werden kann. (...) In der Mehrheit der Länder ist es Wehrpflichtigen nicht gestattet, ihre Haltung zum Gebrauch von Waffen während der Ableistung des Militärdienstes zu ändern. (...) Diese Politik zieht nicht in Betracht, dass es wahrscheinlicher ist, dass Personen während des Gebrauchs von Waffen eher eine aus dem Gewissen begründete Ablehnung dagegen entwickeln als vorher."

Festzuhalten bleibt, dass das Militär mit veränderten Strategien auch anders auf die Bevölkerung zugreift. Es werden weniger männliche Jugendliche in das System der Wehrpflicht eingebunden und dem Befehls- und Gehorsamsprinzip des Militärs unterworfen. Es bildet sich auf der anderen Seite eine Gruppe von jungen Erwachsenen heraus, die aufgrund ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage stärkere Tendenzen haben, den Militärdienst als persönliche Sicherheit und Aufstiegsmöglichkeit zu begreifen und sich als Soldat bzw. Soldatin zu verpflichten. Der militärische Charakter tritt für sie dabei in den Hintergrund und wird möglicherweise erst in einer Kriegssituation als akute Bedrohung und Gefahr wahrgenommen. Hier werden sie jedoch in verschärfter Form mit Repressionen konfrontiert werden wie auch den gerade in Europa stark eingeschränkten Regelungen zur Kriegsdienstverweigerung. Angesichts fehlender Regelungen wird ihnen häufig nur die Flucht aus dem Militär bleiben.

Manche Gruppe, die Kriegsdienstverweigerer unterstützt, hatte sich erhofft, dass der repressiven Praxis mit einer Verfassung der Europäischen Union ein Ende gesetzt würde. Allerdings legitimiert der Artikel II-10 des EU-Verfassungsentwurfes die bisherige Praxis der Nationalstaaten: "Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln." Daraus kann zwar gefolgert werden, dass es ein Recht auf "Wehrdienstverweigerung" geben soll. Den Staaten wird jedoch zugebilligt, das Recht so auszugestalten, wie sie es für richtig halten. Das Recht auf umfassende Kriegsdienstverweigerung wird weiter auf der politischen Tagesordnung antimilitaristischer Gruppen stehen müssen.

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