Kalkar

Militärisches Drehkreuz des Krieges im 21. Jahrhundert

von Bernhard Trautvetter

Am 10.10.1981 demonstrierten in Bonn über 300.000 Menschen gegen die atomare Bedrohung, die mit möglichen neuen US-Raketen in Deutschland und Europa gefährlich zugenommen hatte. Es besteht eigentlich die Notwendigkeit, diese Protestbewegung wieder aufleben zu lassen. Friedensgruppen nahmen daher den Faden wieder auf und demonstrierten 2012, 2013 und 2014 jeweils am Nationalfeiertag mit 300 bis 750 Personen gegen das Nato-Luftkommando in Kalkar und Uedem.

Ein Aufruf von niederländischen und westdeutschen Friedensorganisationen begann 1981 mit dem Satz: „Die 80ger Jahre werden mehr und mehr zum gefährlichsten Jahrzehnt in der Geschichte der Menschheit. Ein 3. Weltkrieg wird aufgrund der weltweiten Aufrüstung immer wahrscheinlicher.“

Viele kannten Kernaussagen des Textes aus jener Zeit von einem Colin S Gray, ‚Victory is possible‘: Man müsse einen Atomraketenabwehrschirm, mit den richtigen Zielen für nukleare Angriffe auf die Sowjetunion (das heutige Russland), und einem Zivilschutz zuhause verknüpfen. Dann könne man den Atomkrieg, wenn auch mit hohen Verlusten, überleben.

Kriege des 21. Jahrhunderts
Militaristen seines Schlages nutzen heute die Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts: Kalkar ist eines ihrer Hauptquartiere. In den Unterlagen für eine dortige NATO-Konferenz im Herbst 2014 lesen wir: „Die gegenwärtige Abwesenheit großer Konflikte der Hauptmächte schließt in sich selbst die Möglichkeit nicht aus, dass zwischenstaatliche Kriege ein Merkmal des zukünftigen Sicherheitsumfeldes sind.” Dafür entwickelt man im Joint Air Power Competence Centre in Kalkar konkrete Ideen, Konzepte und Strategien.

2012 hieß die dortige Herbstkonferenz ‚Warfare in the 21st Century‘. Im Material der Kalkarer Konferenz von 2006 steht: “Wir müssen alle Ebenen beachten, Soldaten und gemeinsame Streitkräfte-Kommandeure. Sie sind alle Teil des Kampfservices, der auch kleinere unbemannte Flugobjekte umfasst.“ (2)

Viele der High-Tech-Kriegsplanungen im 21. Jahrhundert finden nicht nur in Kalkar im Verborgenen statt, wie ein anderes Material von 2006 offenbart: In ‚Joint Perspectives, Challenges and Vision‘ liest man, dass es zum Erreichen der notwendigen Flexibilität erforderlich ist, die Land-bezogenen ‚Operations-Komponenten‘ nicht zu erwähnen. Aber: „Sie müssen gleichzeitig einbezogen bleiben.“

Die Air Force Nuclear Task Force mit ihrer Europäischen „Niederlassung“ USAFE schrieb 2008, „Waffen-Sicherheits-Pläne (Roadmaps) stellen ein lebendiges Dokument zur Aufrechterhaltung eines nuklearen Sicherheitsvorrates und unterstützender Infrastruktur auf eine fiskalisch verantwortliche Weise dar.“ (3) Keine Abkehr von den Atomwaffen also, wie sie Obama versprochen hatte.

Planungen der NATO zeigen die Weiterexistenz der Aussage von Colin S. Gray von 1983, es sei „unwahrscheinlich, dass ein Atomkrieg ein in sich sinnloses und fatales Ereignis darstellt. (…) Ein Präsident muss die Möglichkeit haben, einen Krieg (…) zu seinem eigenen Vorteil zu beenden.“ Zwischen beiden Sätzen befindet sich nur ein Satz gegen die damals bestehende Sowjetunion.

Diese Gedanken sind mit den Pershing II-Raketen, die die Friedensbewegung der 80ger Jahre aus Europa zum Verschwinden gebracht hat, nicht abgetreten.

Das Tagungsmaterial der Herbstkonferenz der NATO im Joint Air Power Competence Centre in Kalkar 2014 umfasst Seite 8 den Satz: „Die Krise in der Ukraine hat schnell verdeutlicht, warum kollektive Sicherheit in Europa immer noch gebraucht wird. Unsere Allianz benötigt es, kollektive Verteidigung, Krisenmanagement und die Krisenreaktion kooperativer Sicherheit in einer sich schnell verändernden und herausfordernden Welt zu exekutieren. Die NATO und politische Entscheidungsträger müssen damit fortfahren, im Kollektiv zu handeln und unsere asymmetrischen Vorteile in gemeinsamer Luft- und Raum-Streitmacht aufrechtzuhalten.“ (4)

Auf der Kalkar- Konferenz 2007 dokumentierte eine Präsentation den Unterschied zwischen großen und langen Kriegen im Vergleich zu einem sogenannten ‚contained war‘. Der große Krieg umfasst demzufolge Staaten, LuftkriegsgegnerInnen, Luftkontrollen und All-gestützte Systeme. Der lange Krieg findet eventuell nach einem großen Krieg statt, er kennzeichnet sich durch irreguläre Aktivitäten außerhalb des von der Regierung kontrollierten Gebietes. Der ‚contained‘ Krieg erfolgt nach der Entscheidung, nicht direkt zu intervenieren. Elemente wie Blockaden und Flugverbotszonen sind Instrumente, die hier zum Zuge kommen.

Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung ist die Formulierung des Tagungsmaterials der 2014-Herbstkonferenz von Kalkar umso besorgniserregender:  „Die zwei Jahrzehnte andauernde Annahme, es werde in Europa keinen großen Krieg (major war) mehr geben, ist anzuzweifeln [...is in some doubt].“ (5)

Drohnen
Die Formen eines solchen wohl infernalen Krieges finden in Zeiten der Digitalisierung die Fernsteuerung, etwa mit Drohnen, die Automatisierung mit Programmen und schließlich die Autonomisierung eigenständiger Entscheidungen, zunächst durch programmierte Vorstrukturierung und dann durch digitales ‚Lernen‘, Daten- und Ablauf-Verknüpfung, die schon weiter gediehen ist, als es sich der Laie vorstellen kann: In der Beilage zur Zeitschrift des Bundestages ‚Aus Politik und Zeitgeschehen‘ 35/2014 steht auf S. 48: „Automatisierte Kriegsführung – Wie viel Entscheidungsraum bleibt dem Menschen? Moderne Militärs müssen immer mehr Informationen in immer kürzerer Zeit auswerten. Computerprogramme unterstützen zunehmend das Filtern und Bewerten der Daten. Wie lange Menschen noch als Überwacher und Entscheider gebraucht werden, ist fraglich.“

Sind Kriegsentscheidungen erst einmal aus der Menschenhand gegeben, dann gibt es keinen gesunden Menschenverstand mehr als vielleicht letzte Reißleine vor dem großen, also apokalyptischen, Atomkrieg.

Im Kalten Krieg haben zwei sowjetische Angehörige der Roten Armee diesen Untergang der Menschheit verhindert: Die Armee-Spitzenfunktionäre Petrow und Archipow verletzten die Vorschriften und lösten keinen Atomkrieg aus, als ihre jeweilige Entscheidungssituation dies vorschrieb. Stanislaw Petrow glaubte am 26.9.1983 den Warnsystemen nicht, als sie einen Atomangriff auf die Sowjetunion signalisierten und verzichtete auf den vorgeschriebenen Druck auf die roten Knöpfe. Wassili Alexandrowitsch Archipow steuerte während der Kuba-Krise 1962 ein U-Boot, das die US-Navy mit Unterwasser-Torpedos angriff. Ebenfalls eine Situation, die den Druck auf die roten Knöpfe zur Folge hätte haben müssen, was er unterließ.

Im Journal des Kalkarer Joint Air Power Competence Centre vom Mai 2008 finden wir einen Text über die Psychologie der Kontrolle des Kriegshandwerks aus der Entfernung. Es heißt da, dass die Entwicklung der Robotik für den Gebrauch auf dem und über dem Schlachtfeld es Soldaten erlaubt, sich selbst von gefährlichen, dreckigen und profan-alltäglichen Aufgaben zu distanzieren, während er in sie technisch eingreift. Der Artikel erwähnt Entwicklungen wie die unbemannten bewaffneten Fluggeräte (Drohnen) mit ihren weit entfernten Kommandozentren, Flügel-Schleichraketen (Cruise Missiles), Interkontinental-Raketen (also eindeutig Nuklearwaffen), Satelliten, Netz-Kommunikation im Internet, ... usw. (6) All das führt weg von traditioneller, territorialer Kriegsführung und hin zum Kriegshandwerk aus der Entfernung, so der Text.

Wie weit die Strategie in der Nato und ihren Führungszentralen wie Kalkar gediehen ist, das zeigt auch der NATO-Gipfel 9/14 in Wales: Man beschloss dort eine Spannungssteigerung gegenüber Russland. Dabei übergingen die Militärs, dass die ukrainische Regierung illegal im Amt, also als Partner illegitim war. Die NATO kritisiert nur die Gesetzesbrüche der Gegenseite, hier Russlands. Sie gießt Öl ins Feuer, indem sie Rechtsbrüche auswählt, gegen die sie vorgeht. Der de-facto-Regierungs-Chef der Ukraine warf Russland vor, den dritten Weltkrieg beginnen zu wollen. Wer dieses Wort in den Mund nimmt, spricht vom Atomkrieg.

In Wales hat die NATO eine Eingreiftruppe mit einer Luftraumüberwachung über dem Baltikum an der Ukraine mit Bundeswehr-Jets beschlossen. Der Luftraum der Ukraine befindet sich im Zuständigkeitsbereich der Bundeswehr- und NATO-Luftleitzentrale Kalkar.

Dazu passt das intolerable Zitat des Vorsitzenden der Münchener Sicherheitskonferenz,  Herrn Ischinger: „Mit der Annexion der Krim, der (...) Putin-Doktrin, (...) hat Russland die Geschichte der europäischen Sicherheit in ein (...) feindseligeres Kapitel zurückgeführt.“ (7)

Mit solchen Kriegsvokabeln wird eine militärische Vorgehensweise am Rande des Abgrunds rechtfertigt. Die Münchener Sicherheitskonferenz (jährlich im Februar) ist so etwas wie das politisch-propagandistische Pendant zu den militär-strategischen Konferenzen in Kalkar.

Kalkar theoretisiert nicht nur, es führt NATO- und Bundeswehr-Einrichtungen für den Luftraum von den Alpen bis nach Nord-, West- und Osteuropa zusammen. Es ist mit der Nachbargemeinde Uedem der große Gewinner der Bundeswehrreform, denn dort wird in den laufenden Jahren bis 2017 die Zahl der Soldaten von wenigen hundert auf knapp 2000 vervielfacht. Das Combined Air Operations Centre Uedem mit seinem 24-Stunden-Gefechtsstand wird aktuell für den Dauereinsatz ‚fit gemacht‘(Rheinische Post, 6.3.2014). In Kalkar wird die sogenannte Neuausrichtung der Bundeswehr, das heißt die komplette Abkehr von einer Verteidigungs- hin zu einer Interventionsarmee militärstrategisch konkretisiert. Die Programmkommission Raumfahrt des Bundesministeriums der Verteidigung und des Bundesministeriums für Wirtschaft(!) tagte am 27.6.13 erstmalig in Kalkar. Es geht also wirklich bei der sogenannten Sicherheitspolitik um die Sicherung ‚unserer‘ Märkte und Ressourcen in aller Welt! Kalkar mit den Headquatern Air in Ramstein und der Africom-Zentrale Stuttgart steigern die Kriegsgefahr.

Anmerkungen
1 Eine ähnliche ‘Diagnose’ finden wir im Tagungsmaterial Future Vector – AIR & Space Power in NATO, Part I, S.141 und an anderen Stellen.

2 Present Paradox – Future Challenge, Kalkar 2014, S. 107

3 National Roadmaps and NATO Flight Plan 3Reinvigorating the Air Force Nuclear Enterprise, S: 119

4 Die Präsentation fußte auf einem Text, der sich unter http://www.academia.edu/4570558/Air_Power_in_Countering_Irregular_Warfare findet.

5 Present Paradox, Kalkar 2014, S. 8 5 ebenda. S. 141

6 www.japcc.org/publications/journal/Journal/20080305: The Psychology of Remote Control Warfare

7 Monthly Mind 09. 14

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Hintergrund
Bernhard Trautvetter, Mitglied im Essener Friedensforum und Gründungsmitglied von Schule ohne Bundeswehr NRW, friedenspädagogisch und -politisch auch in der GEW NRW aktiv, Lehrer an einem Berufskolleg im Ruhrgebiet, Beiträge zu unterschiedlichen Themen u.a. in Zeitschriften wie neue deutsche schule, Friedensforum; eigene Website: www.fotolyrikart.eu.