Nach dem NATO-Einsatz

Mögliche Szenarien am Hindukusch nach 2014

von Matin Baraki

Es gibt mehrere mögliche Szenarien, was nach dem Abzug der NATO-Truppen passieren könnte:

Nach Recherchen des britisch-pakistanischen Publizisten Tariq Ali hatte der NATO-Krieg schon 2008 hundertmal mehr afghanischen ZivilistInnen das Leben gekostet, als in Manhattan im September 2001 starben, d.h. insgesamt 300 000. (1) BeobachterInnen vor Ort gehen von mehr als 500.000 zivilen Opfern aus. Diese werden nach 2014 nicht weniger werden, da die NATO den Krieg lediglich afghanisieren will. Dann werden Afghanen wieder Afghanen töten. Die Möglichkeit, dass es zu einem umfassenden Bürgerkrieg zwischen den rivalisierenden Warlords, wie in den Jahren von 1992 bis 1995 kommen wird, ist nicht ausgeschlossen. Zur Erinnerung, im Jahre 1992 sind allein in Kabul über 50 000 Menschen getötet worden.

Die Folge eines solchen Bürgerkriegs wäre die Spaltung des Landes. Die islamisch geprägten paschtunischen Widerstandsbewegungen würden Gebiete in Süd- und Ostafghanistan entlang der pakistanischen Grenze besetzen. Der Norden und der Westen des Landes würden von den tadjikischen und usbekischen, Mittelafghanistan von den Haszara Warlords kontrolliert werden. Damit wäre Afghanistan de facto geteilt, was aber kein Ende des innerafghanischen Konfliktes bedeuten würde.

Eine Rückkehr der Taliban an die Macht in Kabul scheint jedoch ausgeschlossen. Denn zum einen hat die NATO genügend afghanische Sicherheitskräfte ausgebildet und ausgerüstet. Darüber hinaus werden noch Tausende aus- und inländische Söldner im Einsatz sein. Außerdem bleiben die USA mit 10.000 bis 15.000 SoldatInnen dauerhaft in Afghanistan präsent. Dazu kommen noch mehrere tausend SoldatInnen aus anderen NATO-Ländern, darunter bis zu 800 Deutsche, so dass insgesamt über 20.000 NATO-Kämpfer am Hindukusch stationiert bleiben werden. Es ist nicht ausgeschlossen - so sehen es auch diverse Verträge und Erklärungen der NATO-Länder mit der Kabuler Administration vor - dass im „Notfall“ eine Rückkehr der NATO in vorheriger Stärke möglich wird.

Im günstigen Fall wird Afghanistan irakisiert, im ungünstigen somalisiert werden.

Anstiftung zum Mord
Die Regierungsberater bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin befürworten folgenden Handlungsoptionen: Es seien die „Nato-Kampftruppen bis April 2014 offensiv im Land einzusetzen, damit diese am Wahltag die einheimischen Sicherheitskräfte unterstützen können. Ergänzt werden könnte dies durch einen ‚Enthauptungsschlag’ gegen die Führungen der afghanischen Aufstandsgruppen (Quetta-Shura, Haqqani-Netzwerk und Hizb-i Islāmī). Ziel dabei wäre, die militante Opposition im Vorfeld der Wahlen signifikant zu schwächen“(2), wenn „Figuren wie Mullah Omar, Jalaluddin Haqqani und Gulbuddin Hekmatyar getötet“ (3) würden.

Das ist eindeutig eine Anstiftung zum Mord, was jedoch nach StGB, §26 Anstiftung verboten ist und unter Strafe steht. Dort steht nämlich in juristischer Sprache: „Als Anstifter wird gleich einem Täter bestraft, wer vorsätzlich einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt hat.“ Demnach wird der Anstifter genau wie der Täter bestraft.

Frieden ist möglich!
Die „internationale Gemeinschaft“ führt seit mehr als dreiunddreißig Jahren einen verdeckten und seit dreizehn Jahren einen offenen Krieg gegen Afghanistan und hat damit das gesamte gesellschaftliche Gefüge Afghanistans zerstört; die Infrastruktur, die ökonomischen, politischen und sozialen Fundamente des Landes vernichtet bzw. so aus dem Gleichgewicht gebracht, dass es eine funktionsfähige Gesellschaft am Hindukusch auf unabsehbare Zeit nicht geben wird. Auf Grundlage meiner Feldforschung und zahlreicher Gespräche mit der Bevölkerung aus verschiedensten Schichten und Klassen in Afghanistan bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es längst an der Zeit ist, über Alternativen zum NATO-Krieg nachzudenken. Dreiunddreißig Jahre Krieg sind mehr als genug. Wir müssen es nun endlich mit dem Frieden versuchen. Folgende Thesen sollen dazu als Diskussionsgrundlage dienen:

  1. Ein einseitiger und bedingungsloser Waffenstillstand der NATO, zunächst für die Dauer von mindestens sechs Monaten.
  2. Ablösung der NATO-Einheiten durch eine International Security Assistance Force (ISAF) bestehend aus Einheiten der islamischen und Blockfreien Staaten. Vier Fünftel aller UN-Blauhelmsoldaten kommen aus den Blockfreien Staaten, warum nicht auch in Afghanistan.
  3. Auflösung aller NATO-Militärbasen und Stützpunkte sowie diesbezüglich geschlossener Verträge mit der Kabuler Administration.
  4. Eine nationale Versöhnungspolitik mit allen politischen Gruppierungen, einschließlich der islamisch geprägten, wie den Taliban, der Hizb-i Islāmī von Gulbudin Hekmatyar und dem Haqqani-Netzwerk.
  5. Bildung einer Wahrheitskommission nach dem Muster Südafrikas.
  6. Auflösung aller militärischen und paramilitärischen Verbände der Warlords sowie der ausländischen und afghanischen privaten Sicherheitsfirmen.
  7. Vorbereitung von landesweiten Wahlen in den Dörfern, Kreisen, Bezirken usw. zu einer nationalen Loya Jirga (Ratversammlung), unter der Kontrolle unabhängiger internationaler Organisationen, wie Friedens-, Frauen-, Studenten- und Gewerkschaftsbewegungen.
  8. Konstituierung einer vom Volk gewählten Loya Jirga, jedoch keine Ernennung von irgendwelchen AbgeordnetInnen durch den Präsidenten.In dieser Loya Jirga sollen dann eine provisorische Regierung und Kommissionen zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes basierend auf der Abschaffung des Präsidialsystems sowie eines Wahl-, Parteien- und Gewerkschaftsgesetzes gewählt werden.
  9. Durchführung von allgemeinen, freien und von unabhängigen Gremien kontrollierten Parlamentswahlen.
  10. Wahl einer neuen Regierung unmittelbar durch das Parlament, ohne vorherigen Vorschlag des noch amtierenden Interimsministerpräsidenten.
  11. Abschaffung der Politik der offenen Tür und Einleitung einer auf nationalen Interessen basierenden Wirtschafts-, Finanz-, Zoll- und Steuerpolitik.
  12. Maßnahmen zum Wiederaufbau des zerstörten Landes, wofür ein Viertel der NATO-Kriegskosten aufzuwenden wären. Diese Mittel sollen auf einem unter unabhängiger Kontrolle stehenden Treuhandkonto geparkt und nur projektgebunden verwendet werden können.
  13. An den Wiederaufbaumaßnahmen sollten die Nachbarn Afghanistans bevorzugt beteiligt werden. Dies wird die regionale Kooperation und Stabilität fördern.
  14. In der Region um Afghanistan sollte auf eine mittel-südasiatische Union hingearbeitet werden. Neben Afghanistan sollten ihr die vier mittelasiatischen Länder, Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan und Kasachstan, sowie Iran, Pakistan und Indien angehören. Denn all diese Länder haben viele Gemeinsamkeiten, wie Sprachen, Religionen und sogar Geschichte.
  15. Als vertrauensbildende Maßnahme sollte Afghanistan als erstes Land nach etwa fünf Jahren seine nationale Armee auflösen.
  16. Eine mittel-südasiatische Union könnte zu einer endgültigen Lösung des Kaschmir-Konfliktes (4) zwischen Indien und Pakistan und des Konfliktes um die Durand-Linie (5) zwischen Afghanistan und Pakistan beitragen.
  17. Dann wäre es an der Zeit, die Atomarsenale Indiens und Pakistans abzuschaffen. Dadurch könnte eine der konfliktreichsten Regionen des asiatischen Kontinents zur Zone des Friedens, der Stabilität und der Prosperität werden.

 

Anmerkungen
1 Vgl. Ali, Tariq: Pakistan, Bonn 2008, S. 259.

2 Wörmer, Nils/Kaim, Markus: Afghanistan nach den gescheiterten Präsidentschaftswahlen im April 2014, S. 23, in: Perthes, Volker/Lippert, Barbara: (Hg.):Ungeplant bleibt der Normalfall - Acht Situationen, die politische Aufmerksamkeit verdienen, Berlin, SWP-Studie 16, September 2013.

3 Wörmer, Nils/Kaim, Markus: Afghanistan nach den gescheiterten Präsidentschaftswahlen im April 2014, S. 23, in: Perthes /Lippert 2013

4 Siehe ausführlich dazu: Baraki, Matin: Regionalkonflikt unter Atommächten: Der Streit um Kaschmir, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, Jg. 46, 2001, H. 8, S. 976-984.

5 Durch den von den Briten erzwungenen Durand-Vertrag vom 12. November 1893 unter der Herrschaft von Amir Abdul Rahman (1880-1901) erhielt Afghanistan außenpolitisch den Status eines britischen Protektorats. Dieser Vertrag hatte zur Folge, dass ca. 190.000 qkm des afghanischen Territoriums mit ca. 9 Mio. Einwohnern im Osten und Südosten des Landes an Britisch-Indien abgetreten werden mussten. Dieser Grenzverlauf, der ausschließlich aus strategischen Gesichtspunkten der afghanischen Seite aufgezwungen worden ist, um Afghanistan den Weg zum Indischen Ozean zu versperren, zerschnitt gleichzeitig das von Paschtunen und Belutschen bewohnte Gebiet ohne Rücksicht auf Stammesgrenzen oder natürliche Trennungslinien. Es wurden dabei sogar Familien voneinander getrennt. Nach Gründung Pakistans im Jahre 1947 wurde dieses ursprünglich afghanische Territorium von der britischen Kolonialmacht Pakistan überlassen. Da seitdem Afghanistan und Pakistan diese Stammesregion beanspruchen, wurde sie bis heute zu einem unlösbaren Dauerkonflikt zwischen den beiden Ländern, die deshalb mehrfach an die Grenze einer militärischen Auseinandersetzung gerieten.

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