Nach dem Mittelstreckenvertrag - der Abrüstungszug ist ins Stocken geraten

von Andreas Zumach

Eine "Kettenreaktion" der Abrüstung erwarten viele nach der Unterschrift Reagans und Gorbatschows unter den Mittelstreckenvertrag Anfang Dezember letzten Jahres. Doch die erhoffte Abrüstungsdynamik ist bislang nicht gekommen. Auf einigen Gebieten gibt es sogar Rückschritte. Das gilt vor allem für die Chemiewaffen.

Chemiewaffen

Nach übereinstimmender Aussage westlicher, östlicher und blockfreier VertreterInnen bei der Genfer 40-Staaten-Abrüstungskonferenz sind die technischen Probleme für einen Vertrag über das weltweite Verbot von Chemiewaffen zu 90 Prozent gelöst. Doch die USA wollen keinen Vertrag. Seit dem großen Durchbruch im August 87, als die UdSSR sämtliche Verifikations- und Inspektionsforderungen des Westens akzeptierte, blockieren Washingtons Unterhändler jeglichen Fortschritt. Der Beginn der Binärwaffenproduktion im Dezember 87 und Reagans Ankündigung, die binäre "Big Eye"-Bombe bauen zu wollen, haben das politische Klima erheblich verschlechtert. Vizepräsident Bush im Januar und seitdem weitere Vertreter der US-Administration sprachen sich für eine Reduzierung der Chemiewaffenbestände statt eines weltweiten Verbotes aus. So ließen sich die rund 30.500 Tonnen der US-C-Waffen, die allerdings nur noch zu maximal 20 Prozent einsatzfähig sind, abziehen. Sie würden durch die in der Gesamt-Tonnage sehr viel geringeren, aber zu 100 Prozent einsatzfähigen binären Waffen ersetzt. Und das Ganze würde dann als Abrüstung verkauft. Auch nach Kohls Besuch in Washington Mitte Februar ist offen, ob die USA nicht doch binäre Waffen in der Bundesrepublik stationieren wollen.

Neben diesem Haupthindernis für einen Vertragsabschluß gibt es noch Einwände vor allem westeuropäischer Chemiebetriebe, die bei zu engen Produktionskontrollen "Industriespionage" und "Einblick in Kundenlisten" befürchten. VertreterInnen aus "Entwicklungsländern" verlangen eine Garantie, daß die strikten Vertragsbestimmungen nicht zur Beeinträchtigung chemischer Entwicklungshilfe und des Aufbaus ihrer heimischen Industrien führen. "Einen Vertrag wird es nur geben, wenn die Öffentlichkeit in den Verhandlungsstaaten informiert ist und Druck macht": Dieser Satz eines langjährigen Verhandlungsteilnehmers gilt auch für die konventionellen Abrüstungsbemühungen.

Konventionelle Abrüstung

Nachdem die 23 NATO- und WP-Staaten in Wien 14 Jahre lang vergeblich über die "beiderseitig ausgewogene Truppenreduzierung" (MBFR) verhandelten, laufen in der Donaustadt seit einigen Monaten vorbereitende Mandatsgespräche für eine neue Verhandlungsrunde im Rahmen der 35 KSZE-Staaten. Die UdSSR hat ihre Bereitschaft erklärt, über bestehende Asymmetrien bei Truppenzahlen und Waffengattungen zu sprechen. Doch der Westen hat bislang kein entsprechendes Angebot gemacht. Wie aus westlichen Positionspapieren hervorgeht, soll nur über quantitative Überlegenheiten gesprochen werden, die dem Osten zugeschrieben werden (Truppen, Panzer). Die technologische Überlegenheit der meisten westlichen Waffensysteme soll jedoch ausgeklammert werden. Dasselbe gilt für die Waffensysteme, über die der Westen reden will: aussschließlich die landgestützten, und hier nur die, bei denen der Osten eine zahlenmäßige Überlegenheit und angebliche Invasionsfähigkeit besitzt. Flugzeuge und vor allem die "dual-capable-Systems" (nuklear und konventionell nutzbar) sollen nach Vorstellung der wichtigsten NATO-Staaten nicht auf den Verhandlungstisch gelegt werden.

Kommt es nicht bald wenigstens zu einer Aufnahme formaler Verhandlungen im Bereich der konventionellen Waffen, hat dies auch Rückwirkungen für die nuklearen Kurzstreckenwaffen unter 500 Kilometer. Denn nach einem NATO-Beschluß vom Juni 87 sollen Verhandlungen über diesen Waffenbereich nur "in Zusammenhang mit Verhandlungen über konventionelle Waffen" und nach einem Chemiewaffenvertrag aufgenommen werden. USA, Frankreich und Großbritannien drängen derweil auf die "Modernisierung" der Kurzstreckenwaffen, wie sie die NATO 1983 im kanadischen Montebello beschlossen hatte. Der Modernisierungsaufschub, den Kohl bei seinem Washington-Besuch angeblich erreicht hat, ist Augenwischerei: die 203-Milimeter-Nukleargranaten, stationiert an 17 Orten in der Bundesrepublik, werden in Umsetzung des Montebello-Beschlusses bereits seit 1986 "modernisiert" - d.h. durch weitreichendere und treffgenauere Versionen ersetzt.

Für die LANCE-Systeme, auf die sich die Beschwichtigungsversuche des Kanzlers und seiner amerikanischen Gesprächspartner konzentrierten ("Lebensdauer bis 1995 - Modernisierung jetzt nicht notwendig"), wollen die USA inzwischen gar keine modernisierte Version mehr. Stattdessen entwickeln sie eine neue, nuklear und konventionell bestückbare Rakete mit bis zu 1250 km Reichweite als Munition für den Mehrfachartillerie-Raketenwerfer (MARS), von dem bereits 300 in der Bundesrepublik stehen, und über 600 vorgesehen sind.

Strategische Atomwaffen

Wirkliches Interesse scheint die noch bis Jahresende im Amt befindliche Reagan-Administration nur an dem START-Vertrag über die 50-prozentige Reduzierung der sowjetischen und US-amerikanischen Interkontinentalraketen (über 5.500 km) zu haben.

Aber auch hier gibt es Schwierigkeiten, die einen Vertragsabschluß bis zum voraussichtlichen 4. Gipfel Gorbatschow-Reagan im Mai/Juni wenig wahrscheinlich machen. Zwar haben sich beide Seiten auf die Gesamtobergrenze von jeweils 6.600 Sprengköpfen geeinigt. Doch wieviel davon auf Land, Schiffen oder Flugzeugen stationiert bleiben sollen, ist nach wie vor umstritten. Die USA fordern größere Einschnitte bei den landgestützten (von denen die UdSSR mehr haben); umgekehrt verhält es sich bei den seegestützten Sprengköpfen.

Hauptproblem ist jedoch nach wie vor SDI. Zwar hat die UdSSR inzwischen davon abgesehen, über SDI explizit verhandeln zu wollen. Aber sie verlangt eine ausreichende Garantie für die Einhaltung des Raketenabwehrvertrages (ABM) von 1972 durch die Amerikaner. Für zehn Jahre und in der ursprünglichen, engen Interpretation sagt Moskau - für sieben Jahre und in einer Interpretation, die SDI nicht einschränkt, verlangt Washington. Außerdem wollen die USA keinen ABM-Passus als Bestandteil des START-Vertrages, sondern nur ein Protokoll zum Vertrag. Moskaus Vizeaußenminister Petrowski erklärte Mitte Februar in Genf, die USA wollten sich sogar das Recht vorbehalten, während der vereinbarten ABM-Frist jederzeit einseitig aus dem Abkommen aussteigen zu können. Auf Nachfrage wollte er dies jedoch nicht genauer belegen. Verglichen mit dem Mittelstreckenvertrag gibt es für den START-Vertrag auch sehr viel kompliziertere Verifikationserfordernisse, da ja sämtliche Waffen einer Kategorie beseitigt werden sollen. Diesen Hebel benutzen innerhalb der USA nicht nur grundsätzliche Gegner eines Vertrages, sondern auch Abgeordnete und Senatoren der Demokratischen Partei, denen eine START-Unterzeichnung durch den Republikaner Reagan direkt vor Beginn der heißen Phase des Präsidentschaftswahlkampfes sehr ungelegen kommt.

Kein Grund also für die Friedensbewegung, die Hände in den Schoß zu legen und auf die Verhandlungen in Genf, Wien oder anderswo zu hoffen. Ohne starken innenpolitischen Druck wird der Abrüstungszug nicht in Bewegung kommen.

 

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