Ostermarschbewegung

von Konrad Tempel
Schwerpunkt
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Im folgenden Beitrag beschreibt Konrad Tempel, Quäker aus Hamburg, die Vorbereitungen zum ersten deutschen Ostermarsch. Er war wie seine Frau Helga Tempel Mitglied in dem "Aktionskreis für Gewaltlosig­keit", einer pazifistischen Gruppe, die sich Mitte der 50er Jahre gegrün­det hatte. Im Spätsommer 1959 begannen sie mit der Suche nach einem geeigneten Ort, um eine Demonstration gegen Atomwaffen durchzufüh­ren.

Als am 6. Dezember 1959 die "Hambur­ger Morgenpost" die knappe Nachricht brachte, daß in Bergen-Hohne Atom-Raketen vom Typ "Honest John" er­probt werden, stand unser Entschluss fest, aus Protest dorthin zu marschieren, notfalls allein. Dabei spielte auch eine Rolle, daß der Truppenübungsplatz an das Gebiet des ehemaligen Konzentrati­onslagers Bergen-Belsen angrenzte und sich bei uns die Vorstellung eines neuen "Todes-Zentrums" in der Lüneburger Heide nicht beiseite drängen ließ. Bei Gesprächen mit persönlichen und politi­schen FreundInnen, in denen uns die or­ganisatorischen Schwierigkeiten einer solchen Aktion klar wurden, entstand der Gedanke, an andere pazifistische Gruppen im norddeutschen Raum heranzutreten und sie um eine Beteili­gung zu bitten. Damit war die Form des sternförmigen Marsches vorgegeben, die dann wie selbstverständlich über viele Jahre hin als Grundform der politi­schen Demonstration von Atomwaffen­gegnerInnen akzeptiert wurde. Weil die britischen AtomwaffengegnerInnen ihre Demonstrationen bereits 1958 und 59 zu Ostern durchgeführt hatten und weil an­zunehmen war, daß sich in den Osterta­gen mehr Menschen beteiligen würden als an normalen Wochenenden, wurde die Zeit von Karfreitag bis Ostermontag zur Bewältigung der rund 90 Kilometer langen Strecke von Hamburg nach Ber­gen-Hohne gewählt.

Die Vorbereitungen

Nachdem wir im Aktionskreis für Ge­waltlosigkeit die vielfältigen und be­rechtigten Zweifel ausdiskutiert hatten, gingen wir im Januar an die Arbeit. Am 16. Januar 1960 kündigten wir unser Vorhaben in allen Hamburger Zeitungen sowie den Presseagenturen an, mit dem ausdrücklichen Hinweis auf den indivi­duellen Charakter der Aktion: "Unser Marsch ist ein Protest von Einzelnen" (nicht von Organisationen). die Reak­tion blieb nicht aus. Kriegsdienstver­weigerer-Gruppen in Bremen, Hanno­ver, Braunschweig und Göttingen er­klärten sich mit uns solidarisch. Zum zweiten formulierten und druckten wir einen Aufruf für Veranstaltungen sowie ein Informations-Blatt "Warum wir mar­schieren". Da unsere englischen Freun­dInnen 1959 großen Wert darauf gelegt hatten, prominente Unterstütze­rInnen herauszustellen, schrieben auch wir be­kannte Persönlichkeiten an, von denen wir annahmen, daß sie ebenfalls gegen das Atomrüsten in Ost und West waren. Es antworteten zustimmend so­fort z.B. Erich Kuby, Martin Niemöller, der SPD-Bundestagsabgeordnete Arno Behrisch und Robert Jungk; später dann: Bertrand Russell, Ernst Rowohlt, Stefan Andres, Erich Kästner, Robert Scholl, Helmut Gollwitzer und Heinz Hilpert.

Der erste deutsche Ostermarsch

Unser Hamburger Marsch begann am Karfreitag um 9 Uhr bei regnerischem Wetter in Hamburg-Harburg - nach un­serer Erinnerung mit ungefähr 120 Leuten. Wegen der Feiertagsbestim­mungen konnten wir uns erst ab 11 Uhr am ersten vorgesehenen Rastplatz zu ei­nem Zug formieren. Wir übernachteten in Scheunen, Turnhallen und Jugend­heimen. Am Sonnabend wurde unser Zug durch neu Hinzugekommene größer (zu uns stießen auch elf Atomwaffen­gegner von der englischen Campaign for Nuclear Disarmament).

Etwa zur gleichen Zeit brachen aus Bremen, Braunschweig, Göttingen und Hannover ebenfalls kleine Gruppen von AtomwaffengegnerInnen auf, um nach Bergen-Hohne zu marschieren. Ein wesentliches Merkmal des Mar­sches waren die lebhaften Diskussionen, die uns OrganisatorInnen in hohe Äng­ste versetzt haben. Und zwar deshalb, weil diejenigen, die in diesen Diskus­sionen dominierten, ungleich politischer argumentierten als wir. Und weil an ei­nigen Stellen durchaus agitiert wurde, hatten wir die ernste Sorge, daß die sich gleichermaßen gegen die Atomrüstung des Westens wie des Ostens richtende Gesamttendenz verändert werden könnte. Es tauchte in dem Vorberei­tungsausschuss sogar die Frage auf, ob möglicherweise für einige der Teilneh­merInnen die Agitation wichtiger sei als die Demonstration einer gemeinsamen Auffassung gegenüber der Öffentlich­keit.

In diesem Zusammenhang muß man be­rücksichtigen: Das KPD-Verbot hatte bewirkt, daß KommunistInnen sich in einer Vielzahl von Gruppierungen und Vereinen betätigten; selbst wir im Ver­band der Kriegsdienstverweigerer hatten ständig mit der Unterstellung zu kämp­fen, wir seien eine sog. "Tarnorganisa­tion". Das war der Hinter­grund für un­sere Angst vor einer "Unterwanderung". Solche Schwierig­keiten haben sich in der Folgezeit an ei­nigen Stellen noch gesteigert, nicht nur, weil wir unseren Argwohn nur allmäh­lich überwinden konnten, sondern auch, weil es hin und wieder koordinierte Tendenzen gab, demonstrativ Verbands­symbole zu zei­gen und optisch heraus­ragende Positio­nen einzunehmen, etwa beim Tragen von Spruchbändern und Fahnen. Insge­samt aber hat sich in den folgenden Jah­ren das Prinzip der "breiten Plattform" durchgesetzt, das auf dem Verzicht aller basierte, den Marsch für die eigene Grundposition zu verein­nahmen und mit ihm eigene Politik zu machen.

Am Ostermontag zogen wir von allen Seiten nach Bergen hinein. Etwa 1000 Personen beteiligten sich an der Ab­schlusskundgebung auf dem Raketen­übungsplatz Bergen-Hohne im nieder­sächsischen Kreis Celle. Anschließend legte ein Teil der TeilnehmerInnen noch einen Kranz am ehemaligen Konzentra­tionslager Bergen-Belsen nieder.

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Konrad Tempel war 28 Jahre lang in der LehrerInnen-Bildung am Studienseminar und an der Universität Hamburg tätig, initiierte 1960 die Ostermärsche gegen Atomwaffen in Ost und West, wirkte jeweils fast zehn Jahre als Vorsitzender der Bildungs- und Begegnungsstätte Kurve Wustrow und des Bund für Soziale Verteidigung, entwickelte federführend die ersten Curricula für die Qualifizierung von Friedensfachkräften. Er ist Quäker und Autor der "Anstiftung zur Gewaltfreiheit, Über Wege einer achtsamen Praxis und Spiritualität" (2008).