Der Paradigmenwechsel in der Energiepolitik als Vorbild

Perspektiven der Friedensbewegung in Deutschland und Europa

von Ralf Becker
Schwerpunkt
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Der NDR Podcast “Friedensbewegung im Niedergang?” vom März 2021 (1) schildert den aktuellen Zustand unserer Friedensbewegung in Deutschland sehr treffend. Wir schauen wehmütig auf die 80er Jahre zurück, in denen Millionen Menschen zu großen Demonstrationen auf die Straße gingen, u.a. im Bonner Hofgarten.

Damals ermöglichte ein konkret spürbares atomares Bedrohungsszenario diese Mobilisierung und die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit. Die Einigung führender Aktiver unserer vielfältigen Bewegung auf zentrale Forderungen war ein anderer Erfolgsfaktor für unsere damalige Wirksamkeit.
Seitdem ist die Friedensbewegung noch bunter geworden. Zahlreiche neue Akteur*innen bereichern heute unsere Szene, angefangen vom Bund für Soziale Verteidigung, über gewaltfrei handeln, das Forum sowie das Konsortium Ziviler Friedensdienst mit konkreter Ausbildung und Entsendung ziviler Friedensfachkräfte bis hin zur Kooperation für den Frieden und der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung als übergreifenden Zusammenschlüssen – von denen letztere im inzwischen gegründeten Beirat „Zivile Krisenprävention und Friedensförderung” der Bundesregierung mitwirkt.
In zahlreichen Kampagnen arbeiten wir seit vielen Jahren in unterschiedlichen Bündnissen zusammen, um Gesellschaft und Politik zu beeinflussen – mit einer bis heute überschaubaren Gesamtbilanz. 2021 hat insbesondere die Kampagne „Aktion Aufschrei” nach jahrzehntelanger Vorbereitung mit zwei Thementagen im Fernsehen sowie höchstrichterlichen Verurteilungen gesellschaftliche Wirkung erlangt.
Auch die Etablierung des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung” im Jahr 2004 inklusive dessen Fortschreibung zu den Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern” durch die Bundesregierung 2017 und die damit verbundene Gründung zahlreicher neuer Institutionen zur Friedensförderung auf deutscher, EU- und UN-Ebene sind sichtbare Erfolge der deutschen Friedensbewegung.
Ähnlich wie in der Energiepolitik mit dem inzwischen beschlossenen Atom- und Kohleausstieg kann ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel von militärischer hin zu ziviler, kooperativer Sicherheitspolitik gelingen. Dazu braucht es zunächst den beständigen Ausbau ziviler Organisationen und Instrumente als Alternative zur Bundeswehr. Der Umsetzungsbericht der Bundesregierung zu den Leitlinien vom Frühjahr 2021 zeigt eine beeindruckende Vielfalt, was sich in diesem Bereich in den letzten Jahrzehnten erfreulicherweise entwickelt hat (2).
In der Energiepolitik wurden vor vierzig und dreißig Jahren noch alle als naiv angesehen, die eine Versorgung Deutschlands rein aus regenerativer Energie für möglich hielten. Ähnlich wird unsere Friedensbewegung bis heute noch weitgehend als naiv belächelt.
Doch Instrumente gewaltfreier Konfliktkultur wie Gewaltfreie Kommunikation (GfK) und Mediation erlangen immer größere Verbreitung und Anerkennung. Fast jedes Unternehmen bietet heute Fortbildungen in GfK an, d.h. innergesellschaftlich wächst das Bewusstsein für die Wirksamkeit ziviler und empathischer Konfliktbearbeitung. Diese Entwicklung wird auch bereits von der Bundesregierung und internationalen Organisationen nachvollzogen. So ist Deutschland inzwischen an über 40 internationalen Mediationsprojekten beteiligt. Ein Fundus, auf dem sich die Vision einer rein zivilen Sicherheitspolitik aufbauen und umsetzen lässt.
Das immer offensichtlicher werdende Scheitern militärischer Instrumente zur Konfliktbearbeitung bereitet uns den Boden, die Wirksamkeit ziviler Sicherheitspolitik wirksam in die deutsche und europäische Debatte einzubringen. Die von der badischen Landeskirche angestoßene „Initiative Sicherheit neu denken“ bietet hierzu eine bis 2040 reichende Perspektive.
Das Ziel, 2025 nach der nächsten Bundestagswahl, einen Regierungs- und/oder Bundestagsbeschluss in Richtung eines grundlegenden Paradigmenwechsels von militärischer zu ziviler Sicherheitspolitik zu erreichen, ist durchaus realistisch, wenn wir uns zu einer gemeinsamen strategischen Kooperation in diese Richtung verständigen.
Dass selbst Greenpeace sowie zahlreiche Initiativen in den Niederlanden, Großbritannien, Italien und weiteren Ländern an solch einer strategischen Kooperation interessiert sind, zeigt das Potential eines solchen Zusammenschlusses auch auf europäischer Ebene.
Fast sämtliche Parteien sprechen sich inzwischen für einen Ausbau von Instrumenten ziviler Sicherheitspolitik aus. Gelingt es uns, diese Alternativen zur Bundeswehr bis 2025 in Deutschland und Europa entscheidend weiter zu entwickeln und ins öffentliche und Bewusstsein zu bringen, dann ist 2025 ein von Deutschland ausgehender politischer Paradigmenwechsel möglich und machbar.

Anmerkungen
1 siehe https://www.ndr.de/nachrichten/info/Friedensbewegung-im-Niedergang,audio..., 64 Minuten
2 siehe https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/238497/210330-...

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