Ursachen erforschen

Radikalisierungen sind eine komplexe Angelegenheit

von Renate Wanie

Susanne Schröter im Interview

Islamismus ist eine weltweite Spielart des Islam, darüber gibt es keinen Zweifel. Salafismus und Jihadismus gehören zum Islam und begründen ihre Handlungen meist mit einem Zitat aus Primärquellen im Koran. Auf Fragen nach möglichen De-Radikalisierungsstrategien gebe es dennoch keine einfachen Antworten; Radikalisierungen seien eine komplexe Angelegenheit, entgegnet die Leiterin des neuen „Frankfurter Forschungszentrum globaler Islam“, Susanne Schröter, Professorin für Ethnologie an der Frankfurter Goethe-Universität. Nachfolgend ein Interview mit der Wissenschaftlerin, das Renate Wanie geführt hat.

Renate Wanie (RW): Sie beschäftigen sich seit Jahren mit islamistischen Bewegungen weltweit. Ist der Islamismus eine Facette des Islam?

Susanne Schröter (SSch): Ja, es handelt sich um eine bestimmte Spielart des Islam, die sich allerdings zurzeit weltweit im Aufwind befindet. Wir haben dies bei den Wahlen in Nordafrika nach dem arabischen Frühling gesehen, wo islamistische Parteien beispielsweise in Ägypten und in Tunesien große Wahlerfolge verzeichnen können. Auch in anderen islamisch geprägten Ländern lässt sich beobachten, dass die muslimische Bevölkerung frömmer wird und sich zunehmend einem rigiden Gesetzesislam zuwendet, der als Alternative für säkulare Ordnungen verstanden wird. Und schließlich muss man betonen, dass auch die jihadistische Variante des radikalen Islam momentan sehr stark ist. Nicht nur in Syrien und dem Irak, sondern auch in anderen Teilen des Nahen und Mittleren Ostens, in Afrika, dem Kaukasus und in Südostasien. Selbst in Europa sehen wir ja, dass salafistische und jihadistische Gruppierungen großen Zulauf haben und man bereits von einer islamistischen Jugendbewegung sprechen kann.

RW: Worin sehen Sie Ursachen für die aktuelle Radikalisierung? Sind Islam und Islamismus überhaupt voneinander zu trennen?

SSch: Vertreter muslimischer Verbände behaupten häufig, Salafismus und Jihadismus hätten nichts mit dem Islam zu tun. Das ist falsch. Salafisten beziehen sich auf Koranverse und auf die islamischen Überlieferungen und sie begründen ihre Handlungen in der Regel mit einem Zitat islamischer Primärquellen. Im Koran und in den Überlieferungen lassen sich Belege für Widersprüchliches finden und es hängt allein davon ab, auf welche Textstellen man sich beruft und wie man sie gewichtet. Progressive Gelehrte wie Mouhanad Khorchide in Deutschland oder Amina Wadud und Abou El Fadl in den USA versuchen das Problem durch eine Differenzierung in unterschiedliche Versarten zu lösen. Die einen besäßen eine universelle Gültigkeit, da Gott in ihnen die unveränderlichen ethischen Prinzipien des Islam festgelegt habe, die anderen seien Interventionen Gottes in einer bestimmten historischen Situation gewesen. Da diese Situationen heute nicht mehr bestehen, seien die Verse jetzt irrelevant. Diese historisch-kritische Hermeneutik wird bislang von der Mehrheit der muslimischen Gelehrten abgelehnt, so dass Abgrenzungen zwischen einem globalen Mainstream-Islam und seinen radikalen Spielarten nach wie vor schwierig bleiben.

RW: Durch die Ideologie des IS wird eine neue Generation junger Menschen mobilisiert. Woran liegt es, dass trotz der Berichte in den Medien über grausame Menschenrechtsverletzungen, z.B. in Syrien, die Attraktivität für Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren, sich dem Salafismus und Dschihadismus anzuschließen, ungebremst ist?

SSch: Dafür gibt es mehrere Erklärungen: Die einfachste ist sicherlich, dass in der gegenwärtigen Situation Personen angeworben werden, die eine Legitimation zum Töten suchen, d.h. sich diese aufgrund pathologischer psychischer Dispositionen gerade davon angezogen fühlen, dass sie im Irak und in Syrien Menschen foltern und ermorden dürfen. Das Versprechen, absolute Macht über Leben und Tod zu haben, zieht viele offensichtlich an. Andere sehen dies sicherlich pragmatischer. Grausamkeiten sollen den Feind abschrecken. Das funktioniert auch bis zu einem gewissen Maß. Und eine dritte Erklärung zielt darauf, dass man beabsichtigt, größtmögliches Chaos zu erzeugen, um letztendlich, wenn man den islamischen Staat aufbaut, darauf zu hoffen, dass die Bevölkerung vollkommen erschöpft ist und jeder Ordnung zustimmt, um wieder in Frieden leben zu können. Wichtig bei jeder der drei genannten Erklärungen ist der Umstand, dass eine ideologische Trennung zwischen den so genannten rechtgeleiteten Muslimen und dem Rest der Welt gezogen wird. Nichtmuslimen oder Muslimen, die nicht der eigenen Linie folgen, wird das Menschsein abgesprochen. Sie sollen ohne Mitleid vernichtet werden, da sie der Durchsetzung der islamistischen Ordnung im Wege stehen.

Grundsätzlich können all diejenigen, die sich dem IS anschließen, mit einer Steigerung der Anerkennung in ihren Peer-Gruppen rechnen. Sie werden als Helden gefeiert und von denjenigen bewundert, die nicht ausreisen.

Präventionsarbeit
RW
: Welche Strategien der Prävention und De-Radikalisierung sehen Sie, um die Heldenträume von ca. 700 Jugendlichen aus Deutschland, die sich dem IS anschließen, zu „entzaubern“, wie sie es in einem Interview formulierten? Genügt die etablierte Jugend- und Sozialarbeit?

SSch: Wir haben bereits eine lang etablierte Jugend- und Sozialarbeit, die offensichtlich nicht in der Lage ist, diese Entwicklung aufzuhalten. Daher sind neue Konzepte gefragt. Meiner Meinung nach muss man auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen:

1) Im Internet, dem Ort, wo ein Großteil der Propaganda läuft. Wenn Sie sich als Jugendlicher für den Islam interessieren, landen Sie nach wenigen Klicks auf salafistischen Seiten. Hier müssten dringend Alternativen angeboten werden. Es gibt auch bereits einige gute Ansätze, die heroischen Bilder des Salafismus und Jihadismus durch Befunde aus der Realität zu entzaubern, d.h. Geschichten von Jugendlichen zu erzählen, die einen radikalen Weg eingeschlagen haben und gestorben sind. Ich hoffe, dass man in naher Zukunft auch brauchbare Geschichten von desillusionierten Rückkehrern erhalten wird.

2) Neben dem Internet sind die Schulen geeignete Orte für Präventionsprojekte. Hier erreicht man alle Jugendlichen und kann fundiert mit ihnen arbeiten. Im Moment laufen einige viel versprechende Pilotprojekte an. Für die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden begleite ich diese Pilotprojekte wissenschaftlich.

3) Das dritte Instrument der Prävention ist der Aufbau einer qualifizierten Jugendarbeit in Moscheegemeinschaften. In Frankfurt haben wir ein vom Amt für multikulturelle Angelegenheiten organisiertes Pilotprojekt mit drei Moscheegemeinschaften, das ich im wissenschaftlichen Beirat mit betreue. Ich bin sehr gespannt, wie sich diese Projekte entwickeln.

4) Das vierte wichtige Feld ist die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit in Gefängnissen. Es gibt mittlerweile ein Bewusstsein bei staatlichen Entscheidern, dass muslimische Gefängnisseelsorge wichtig ist, und man stellt Imame ein, die dort wichtige Arbeit leisten.

RW: Welche erfolgreichen Beispiele gibt es eventuell in anderen Ländern?

SSch: Wir haben im Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam, das ich leite, im Juli eine Konferenz mit Experten und Expertinnen aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland durchgeführt, um zu sehen, welche Konzepte erfolgreich sind. Es war ein bisschen ernüchternd, da es mehr gute Absichten als gute Ergebnisse gibt. Was nicht zu funktionieren scheint, ist eine einseitige Betonung der sozialarbeiterischen Präventionsarbeit. Das Problem ist, dass es momentan schlicht zu wenig Grundlagenforschung zum Problem der Radikalisierung junger Muslime gibt. Lange Zeit war das Thema an den Unis tabu, weil man Muslime nicht diskreditieren wollte. Man hat fast ausschließlich zu Islamophobie bzw. antimuslimischem Rassismus geforscht. Radikalisierung wurde ausschließlich als Folge von Diskriminierungserfahrungen verstanden. Diese Ausblendung von Realität rächt sich jetzt. Radikalisierungen sind eine komplexe Angelegenheit, dazu geprägt von nationalen Komponenten. In Deutschland ist beispielsweise der Anteil von Jugendlichen aus sozial prekären Verhältnissen und Kleinkriminellen sehr hoch, in England rekrutieren Jihadisten vorwiegend im akademischen Milieu.

Politische Gegenstrategien
RW
: Offen ist die Frage, wie dem IS wirkungsvoll politisch entgegengewirkt werden kann. Dem Hauptfinanzier Saudi-Arabien Waffen zu liefern, wie Deutschland es praktiziert, dürfte kaum die adäquate Antwort sein. Welche politischen Strategien sind in der Diskussion?

SSch: Außenpolitische Doppelzüngigkeiten westlicher Regierungen liefern Steilvorlagen für jihadistische Aktivitäten. Wenn der Westen vorgibt, Demokratien zu fördern, aber mit Diktatoren paktiert, wenn Hunderttausende tote Iraker, die Opfer des von den USA völkerrechtswidrig durchgeführten Irakkrieges wurden, in den Medien nicht beachtet werden, wenn man im Israel-Palästina-Konflikt mit zweierlei Maß misst, dann haben wir ein legitimatorisches und moralisches Problem. Dass Saudi-Arabien als verlässlicher Partner am Golf hofiert wird, ist ebenfalls nicht vermittelbar. Nicht nur der Umstand, dass der radikale Islam ideologisch durch saudi-arabische Prediger weltweit verbreitet und die der Export des Wahhabismus finanziell in aller Welt durch Saudi-Arabien gefördert wird, sollte uns zu denken geben, sondern auch die Tatsache, dass Saudi-Arabien und der IS das gleiche Rechtssystem miteinander teilen. Jeden Freitag werden in Saudi-Arabien die Strafen vollstreckt – in aller Öffentlichkeit – für die der IS mit Recht verurteilt wird.

RW: Welche Rolle spielen bisher die muslimischen Gemeinden in Deutschland. Beziehen diese eine klare politische Position?

SSch: Man hat den muslimischen Gemeinden in der Vergangenheit den Vorwurf gemacht, sich nur dann vom islamischen Terrorismus zu distanzieren, wenn sie durch die Öffentlichkeit dazu gezwungen werden. Freiwillig tun sie dies nur selten, bzw. häufig gibt es die stereotype Antwort, Anschläge von Jihadisten hätten nichts mit dem Islam zu tun. Warum haben die Gemeinden das Problem, sich nicht distanzieren oder eindeutig gegen den Islamismus positionieren zu wollen? Wenngleich man sagen muss, dass Gewalt nicht legitimiert wird, herrscht doch in vielen Communities die Haltung vor, islamische Terroristen seien durchaus ehrenwerte Mitglieder der Ummah, der islamischen Gemeinschaft, die allerdings aus jugendlichem Leichtsinn heraus etwas zu weit gegangen sind. Das Problem ist, dass sich islamistische Positionen in der Mitte der islamischen Gemeinden wiederfinden, dass viele konservative Muslime ideologisch nicht weit von salafistischen Positionen entfernt sind. Das betrifft z.B. die islamisch begründete Geschlechterordnung, die Abwertung von Nichtmuslimen, das absolute Verbot, den Islam zu verlassen, oder die Homophobie. D.h. man kann sich inhaltlich nicht distanzieren, weil man dieselbe Einstellung teilt.

Jetzt werden allerdings Versuche unternommen, Moscheegemeinden in die Präventionsarbeit einzubeziehen und mit ihnen in einen ernsthaften Diskurs über Werte zu treten. Das ist ein guter Ansatz, der im besten Fall zu einer tiefer gehenden Integration führen kann. Man sollte die Erwartungen allerdings nicht zu hoch hängen, da Moscheegemeinden sich bislang nicht als reflexive Diskursgemeinschaften verstanden haben, sondern eher als Bewahrungsgemeinschaften, in denen der Glaube – anders als in der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft – nicht kritisch beleuchtet oder gerechtfertigt werden muss.

RW: In einem Artikel in der Frankfurter Rundschau sprachen Sie von dem „unbekannten Feind IS“. Dies sei mit ein Grund, weshalb keine Mittel gefunden werden, um den IS, die Ausbreitung seiner Ideologie und seine brutalen Praktiken zu stoppen. In welche Richtung müsste weiter geforscht werden, um politische Strategien gegen den IS zu finden?

SSch: Ich habe es bereits angesprochen: Wir müssen dringend über Ursachen forschen, herausfinden, welche Faktoren radikale Einstellungen begünstigen und welche geeignet sind, Jugendliche ideologisch gegen radikale Prediger und islamistische Botschaften zu immunisieren. Auch die wissenschaftliche Evaluierung der gerade gestarteten Präventionsmaßnahmen sind unbedingt notwendig, damit man nicht jahrelang blind in irgendeine Richtung marschiert, die vollkommen in die Irre führt. Dazu ist aber auch Offenheit notwendig und Selbstkritik auf allen Seiten. Die Mehrheitsgesellschaft ist gefragt, ihre Vorurteile gegenüber Muslimen ernsthaft in Frage zu stellen, und die Muslime ihre Vorurteile gegenüber den Nichtmuslimen.

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