Wie Afghanistan Teil meines Lebens wurde

Rückblick auf einen Krieg

von Daniel Lücking
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Als am 11. September 2001 die Meldungen über entführte Flugzeuge und den ersten Einschlag einer Maschine in das World Trade Center im Radio liefen, befand ich mich mit meiner damaligen Frau auf Hochzeitsreise. Wir hatten im Jahr zuvor geheiratet, noch bevor ich als Soldat zu einem sechsmonatigen Auslandseinsatz ins Kosovo ging. Die Bilder, die wir an diesem Tag in einem Einkaufszentrum sahen, sollten unser Leben verändern und nicht zuletzt auch der Grund für unsere Scheidung einige Jahre später werden.

Angesichts von über 3.000 Toten an diesem Tag in den USA und Zehntausenden weiteren Toten in den Folgejahren in den Ländern, die die internationale Militärallianz angriff und den Racheakt „War on Terror“ als Selbstverteidigung deklarierte, mag das persönliche Schicksal belanglos wirken. Letztlich jedoch prägte dieser 11. September 2001 mein halbes Leben. Blicke ich heute auf die Entscheidungen zurück, die ich als damals 22-jähriger Soldat traf, fällt es schwer, diejenigen Punkte zu identifizieren, die ich hätte anders machen müssen.

Konservativ aufgewachsen und geprägt war Militär für mich kein Tabu. Negative Erfahrungen hatte ich weder mit Polizei noch mit Bundeswehr gesammelt. So erschien mir das Militär zunächst als guter Arbeitgeber, und faktisch war es auch die damals einzige Möglichkeit für mich, schnell selbstständig zu werden, ein Einkommen zu haben. Finanzielle Unterstützung meiner Eltern hatte ich nicht. Wenige Wochen zuvor war 2001 mein Vater viel zu früh verstorben.

Die Bilder der einstürzenden Türme, des angegriffenen Pentagons und des abgestürzten Flugzeugs versetzten uns in Angst. Wir reisten verfrüht ab und ich suchte bald die Kaserne auf, deren Eingang nun mit Maschinengewehren gesichert war. Schon wenige Wochen danach begann der Krieg in Afghanistan, den die USA mit allen Mitteln führten. Die Bundeswehr gehörte unmittelbar dazu. Im Januar 2002 bekam ich das zu spüren, als ich für mehrere Wochen zur Bewachung einer US-Kaserne in Wiesbaden abkommandiert wurde.
Bis dahin und auch viele Jahre danach gab es wenig Gründe zu hinterfragen, was in Afghanistan passierte. Es wirkte wie Selbstverteidigung, und zu welchen Mitteln gegriffen wurde, das sollte ich erst in den späteren Jahren erfahren und letztlich daran zerbrechen.

Schon in meiner Ausbildung zum Offizier war mir klar, dass ich irgendwann Teil des deutschen Einsatzes in Afghanistan werden würde. An der Offiziersschule im Jahr 2004 bereitete man mich jedoch nur wenig darauf vor. Ein Seminar mit Einsatz- und Afghanistanbezug fand nur an lediglich vier Ausbildungstagen statt – den Rest des sechsmonatigen Lehrgangs verbrachte ich mit Taktik- und Logistikschulungen, die über die Bedrohungsszenarien des Kalten Krieges nicht hinausgekommen waren.

Mir war längst klar, dass ich irgendwann als Experte für Medien nach Afghanistan gehen würde. Die Aufgabe unserer Truppengattung: Mit medialen Mitteln die Bevölkerung von Sinn und Zweck des Einsatzes zu überzeugen. Bis zu meinem ersten Einsatz in Kunduz, der im November 2005 begann, schaffte die Bundeswehr es jedoch nicht, mich angemessen auszubilden. Längst waren alle, die meine Ausbildung zum Redakteuroffizier hätten vornehmen können, im Einsatz.

Mehr, als eine dreiwöchige Einarbeitung blieb mir nicht, als ich im Alter von dann 26 Jahren die Verantwortung für ein Radioprogramm mit einer Millionen Hörer*innen übernahm und ein Team aus deutschen Soldaten (Genderanmerkung: alle männlich) und afghanischen Redakteur*innen führte. Arbeitssprache Englisch, stets bemüht um interkulturelle Kompetenz und bitte keine Tabuthemen wie Religion, aber auch Korruption im Land ansprechen.

Der Einsatz bei einer uns positiv gesonnenen Bevölkerung, der im November 2005 noch mit Radioübertragungen von Fußballspielen vom Sportplatz in Kunduz begann, sollte nicht friedlich bleiben. Als im Januar 2006 zum zweiten Mal die Mohammed-Karikaturen veröffentlicht wurden, änderte sich die bis dahin im deutschen Gebiet überwiegend friedliche Lage binnen weniger Tage. Es dauerte dann keine drei Wochen mehr, bis es den ersten Anschlag in der Innenstadt von Kunduz gab, bei dem zahlreiche Afghan*innen und auch deutsche Soldaten verletzt worden sind.

Auch wenn ich in diesem ersten Afghanistaneinsatz den Wendepunkt zwischen einer friedlichen Stimmung des Wiederaufbaus hin zu einer kriegerischen Eskalation erlebte, dauerte es bis zum persönlichen Wendepunkt noch weitere Jahre. Erst in meinem dritten Einsatz ist es ein Angriff auf unser Camp, der mein Bild vom Bundeswehreinsatz um 180 Grad dreht.

Auf dem Weg zum Mittagessen sind am 27. September 2008 die Einschläge und Explosionen von zwei Mörser-Granaten zu hören, die ich zunächst noch als Übungen abtue. Kurze Zeit darauf folgt der Alarm. Aus den gegen Explosionen geschützten Containern ist deutlich der Feuerkampf in der Nähe des Camps zu hören. Aufklärungsdrohnen starten und bis zum Abend werden auch Kampfflugzeuge eingesetzt. Als ich wenige Tage später die Intensität des Angriffs nur geschönt in den Bundespressewehrmeldungen fand, war mein Misstrauen geweckt.

Wir klagen die Taliban an, ihre Erfolge zu beschönigen, und reden gleichzeitig deren Angriffe belanglos? Von einer hochrangigen Quelle erfuhr ich, dass wir Angreifer festgenommen hatten. Diese seien an die afghanische Polizei übergeben worden und der Gouverneur der Provinz, ein Kooperationspartner der Bundeswehr, habe sie töten lassen.

Ich bin noch heute fassungslos darüber, dass wir von einem Lynchmord unseres wichtigsten politischen Kooperationspartners vor Ort wussten, aber nicht einschritten. Seit ich Jahre später in Unterlagen des Bundestages den Vorfall nachvollziehen konnte, selbst auf Aufklärung drängte, ist mein Vertrauen in die Parlamentsarmee, der ich einst angehören wollte, zerbrochen. Eine parlamentarische Kontrolle der Armee – und das zeigt nicht nur der Afghanistaneinsatz – findet in Auslandseinsätzen nicht statt. Gemessen am Grad dessen, was die Bundesregierung und das Einsatzführungskommando verschweigen können, ohne dass gewählte Parlamentarier*innen  davon etwas erfahren können, muss bei der Armee im Einsatz eher von „Regierungstruppen“, denn von „Parlamentsarmee“ geredet werden.

Anlässlich des Abzuges wird auch deutlich, wie wenig wir über den Afghanistaneinsatz wissen. Ständig ist die Rede von 59 getöteten Soldaten, eine Zahl der durch deutsche Hand getöteten Zivilist*innen gibt es indes nicht. Es wird vom Leid der einsatzgeschädigten Veteran*innen berichtet, ein Gedenktag gefordert, um ihren Einsatz zu würdigen. Doch die Forderung nach einem Gedenktag, mindestens für die beim Bombenabwurf auf zwei Tanklaster am 4. September 2009 getöteten vermutlich 134 Opfer, ist nicht im Gespräch.
Stattdessen wird darüber sinniert, ob nicht Politiker*innen bei der letzten Ankunft von Soldat*innen aus Afghanistan ein Zeremoniell am Flughafen hätten abhalten müssen. Die Wahrnehmung des Einsatzes, der viele Menschenleben gekostet, viele für immer verändert hat, hängt gar so schräg, dass die Politik nun im Nachhinein eine Rechtfertigung sucht. Die Wehrbeauftragte Eva Högl fordert gar eine Enquetekommission, die den Einsatz kritisch betrachten soll. Das Eingeständnis dahinter: Niemand weiß, was wir eigentlich erreichen wollten, wer letztlich Vorgaben machte, wofür Menschen starben und was erreicht wurde. Eine Erkenntnis, die so bitter wie unvermeidbar ist.

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Daniel Lücking war Offizier der Bundeswehr und zwischen 2005 und 2008 insgesamt 11 Monate im Afghanistankrieg eingesetzt. Einschneidende Erlebnisse führten bei ihm zu einer Traumatisierung, die er bis 2018 aufarbeitete. Mittlerweile arbeitet er als Redakteur bei nd, Der Tag in Berlin, und befasst sich mit innen- und sicherheitspolitischen Themen.