1952: Friedensdemonstrant Philipp Müller von Polizei erschossen

Tödliche Polizeigewalt vor 70 Jahren

von Martin Singe
Hintergrund
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Am 12. Mai 1952 wurde bei einer Friedensdemonstration in Essen der 21-jährige Philipp Müller aus München von einem Polizisten erschossen. Er stammte aus einer katholischen Familie, war gelernter Schlosser und und aktiv in verschiedenen linken Gruppierungen und Bündnissen. Er engagierte sich intensiv gegen die Wiederaufrüstung und war eigens zur „Friedenskarawane“ nach Essen angereist.

Kommunistische, kirchliche, linke und pazifistische Gruppen hatten zu einer Friedenskarawane nach Essen aufgerufen. Hintergrund war die geplante Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland und ihre Einbeziehung in NATO und Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Eine Konferenz von Vertreter*innen verschiedener Jugendorganisationen unter Leitung des dortigen Pfarrers Herbert Mochalski, eines engen Vertrauten des hessen-nassauischen Kirchenpräsidenten Martin Niemöller, rief am 2. März 1952 in Darmstadt zu einer „Jugendkarawane gegen Wiederaufrüstung und Generalvertrag“ am 11. Mai 1952 in Essen auf.

Am 10. Mai verbot Karl Arnold (CDU), Innenminister und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, die Demonstration mit der Begründung, dass nicht genug Polizeikräfte zur Verfügung stünden. Viele Teilnehmer*innen traten die Heimreise an. Dennoch fanden sich etwa 30.000 Personen, die an verschiedenen Orten in Essen kleinere Veranstaltungen organisierten, die jedoch von der Polizei aufgelöst wurden. Vor der Grugahalle widersetzten sich Demonstrierende den Aufforderungen der Polizei. Die Polizei setzte massiv Gewalt ein, so dass die Situation eskalierte. Polizeikommissar Knobloch erteilte schließlich den Schießbefehl auf die Demonstrierenden.

Zwei Kugeln eines Polizisten trafen Philipp Müller, eine davon traf sein Herz tödlich. Durch Polizeikugeln schwer verletzt wurden außerdem der Sozialdemokrat Bernhard Schwarze aus Münster und der Gewerkschafter Albert Bretthauer aus Kassel.

Die Schüsse wurden per Gerichtsentscheid als Notwehr eingestuft, indem behauptet wurde, von Seiten der Demonstrierenden sei zuerst geschossen worden, was jedoch nie nachgewiesen wurde. Allerdings hatte es Steinwürfe gegeben, nachdem die Polizei rücksichtslos Gummiknüppel und Schlagstöcke einsetzte. Dutzende Jugendliche – nach anderen Angaben sogar 283 - wurden festgenommen. Elf Teilnehmer der verbotenen Jugendkarawane wurden wegen Aufruhrs in Tateinheit mit Landfriedensbruch zu insgesamt 76 Monaten Gefängnisstrafe verurteilt. Bei der Begründung des Urteils meinte der Vorsitzende Richter Anton Rheinländer, es sei notwendig gewesen, „fühlbare Strafen zu verhängen, um in genügendem Maße abschreckend zu wirken.“

Bei keinem der Festgenommenen wurde eine Schusswaffe gefunden. Ministerpräsident Arnold erklärte: „Da der Widerstand durch den Gebrauch des Polizeischlagstocks nicht gebrochen werden konnte […] musste von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden. Vor dem Schusswaffengebrauch wurde die Menge dreimal aufgefordert, das Werfen einzustellen.“

Ralph Giordano, der als Demonstrant in Essen dabei war, schilderte in packenden Worten den Ausbruch der Gewalt vor der Gruga-Halle: „Der Eingang war schwer bewacht. Die Berittenen trugen lange Stahlruten, und die zum Zerreißen gespannte Atmosphäre teilte sich den Tieren mit – sie tänzelten, warfen die Köpfe hoch, schnaubten. Und dann, als, kurz angeleint, Hunde erschienen, explodierte die Menge in furchtbarer Erregung – Sprechchöre, Schreie, herabsausende Gummiknüppel, stürzende Körper, durch die Luft geschleuderte Tschakos. Der Kampf war, von einer Sekunde auf die andere, in vollem Gange.“

Die von der KPD geforderte Einrichtung eines Untersuchungsausschusses wurde abgelehnt. In den Gerichtsprozessen wurde von der Verteidigung auch das Demonstrationsverbot selbst als Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit angemahnt. Dagegen entschied der Bundesgerichtshof abschließend, dass das Verbot rechtens gewesen sei, da die Demonstration „friedensfeindlichen Zwecken“ gedient habe.

Quellen
Wikipedia; Kurt Nelhiebel, Anatomie eines Lügenkomplotts, in: Conrad Taler, Gegen den Wind, Geschichten und Texte zum Zeitgeschehen 1927 – 2017. PapyRossa-Verlag: Köln 2017
https://www.kurt-nelhiebel.de/grundrechte/anatomie-eines-luegenkomplotts/
Martin Singe ist im Redaktionsteam des Friedensforums

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".