Umweltflüchtlinge: Problemaufriß und Überblick

von Roland Richter

1. Umweltflüchtlinge - ein Teilaspekt des Weltflüchtlingsproblems

Das Problem der Umweltflüchtlinge wird im Rahmen der Flüchtlingsforschung bisher weitgehend vernachläs­sigt, obwohl die Zahl der Umwelt­flüchtlinge die der "politischen Flücht­linge" - deren Zahl wird vom Flücht­lingshochkommissar der Vereinten Na­tionen (UNHCR) gegenwärtig mit 19 Mio. angegeben - noch bei weitem übertrifft. Umweltflüchtlinge erscheinen grundsätzlich nicht in der Füchtlingsstatistik des UNHCR und unterstehen auch nicht dessen Mandat, da sie keine "politischen Flüchtlinge" im Sinne der "Genfer Flüchtlingskonvention" sind.

Darüber, wer und was ein Umwelt­flüchtling ist, erhält man eine genauere Vorstellung, wenn man die Begriffsde­finition zuhilfe nimmt, die in einer Stu­die des Umweltprogrammes der Ver­einten Nationen (UNEP) vorgeschlagen wurde:

"Als Umweltflüchtlinge werden jene Menschen bezeichnet, die gezwungen wurden, ihre traditionelle Umgebung vorübergehend oder dauerhaft zu verlas­sen, da Umweltschäden (natürliche und/oder durch Menschen verursachte) ihre Existenz in Gefahr brachten und/oder ihre Lebensqualität schwer­wiegend beeinträchtigten."

Bei den Umweltschäden, die jährlich ­Millionen von Menschen vorübergehend oder dauerhaft aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertreiben, können drei große Kategorien unterschieden werden: Erstens Naturkatastrophen, die durch natürliche oder naturbedingte Entwicklungen verursacht werden, wie z.B. Vulkanausbrüche oder Erdbeben. Zweitens Umweltschäden, bei denen sich natürliche Ursachen und durch den Menschen bedingte Ursachen überla­gern und sich dabei evtl. verstärken. Zu diesen zumindest indirekt vom Menschen verursachten Katastrophen sind klimabedingte ökologische Veränderun­gen, wie die Desertifikation, Dürren, Wirbelstürme oder Überschwemmungen zu zählen. Drittens gibt es direkt durch den Menschen verursachte Umweltver­änderungen wie die Zerstörung weiter Landstriche, die infolge der Errichtung großer Staudämme bzw. der damit ver­bundenen Überflutung oder infolge des großräumlichen Tagebaus von Rohstof­fen unbewohnbar werden. Weiterhin zählen zu dieser Kategorie technische Unfälle oder Katastrophen, Kriege und gravierende industrielle Umweltver­schmutzungen.

 

2. Umweltflüchtlinge aufgrund natürlicher Ursachen

Als eindeutig natürliche Verursacher von Umweltflüchtlingen sind Erdbeben, Vulkanausbrüche oder ähnliche geo­tektonische Phänomene einzustufen. Der wesentliche Unterschied zu "politischen Flüchtlingen" oder anderen Kategorien von Umweltflüchtlingen ist die Verortung dieser Fluchtursachen in Entwicklungen, die an erdgeschichtliche Zeitdimensionen gebunden sind.

Gewöhnlich beschränken sich die An­gaben in der Literatur oder in Presse­meldungen zu Naturkatastrophen auf Angaben zur Zahl der Todesopfer. Seltener werden Daten zu Flüchtlingsbewegungen berichtet oder über obdachlos gewordene Menschen, die als (Umwelt)Flüchtlinge im weiteren Sinne bezeichnet werden können, da sie ihren unmittelbaren Lebensraum vorüberge­hend (z.B. als Vorsorgemaßnahme) oder dauerhaft (z.B. bei Totalzerstörung ihrer Häuser) verlassen mußten.

 

3. Umweltflüchtlinge durch anthropo­gen verursachte Naturkatastro­phenprozesse

Im Zusammenhang mit der Frage der Umweltflüchtlinge sind insbesondere zwei Katastrophenprozesse relevant: er­stens die prozeßhaften ökologischen Veränderungen und zweitens das exponentielle Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt. Letzteres wirkt beschleu­nigend auf die zunehmenden ökologi­sehen Zerstörungen.

Es ist zum Teil äußerst schwierig, in einzelnen Fällen sogar unmöglich,

Flüchtlingsbewegungen bestimmten Ursachen eindeutig zuzuordnen. Dies trifft insbesondere in jenen Staaten zu, in denen oft über Jahre hinweg verhee­rende innerstaatliche Kriege ausgetragen werden. Die anthropogen verursachten ökologischen Katastrophenprozesse verbinden sich dort mit den ökologisch destruktiven Folgen der militärischen Kriegführung, vor allem aber mit den Folgen einer "ökologischen Kriegfüh­rung" (Zerstörung der Felder, Vernich­tung der Ernte, Einsatz der "Hunger- Waffe") zu einem nicht mehr zu entflechtenden Fluchtursachenkomplex.

Aber in der Flüchtlingsdiskussion wer­den immer häufiger sogenannte "Dürre­" oder "Hungerflüchtlinge" genannt, die nicht durch militärische Konflikte mit­verursacht werden. Die Zahl dieser Ka­tegorie von Umweltflüchtlingen ging z.B. während der beiden großen Dürren in Afrika Anfang der 70er Jahre, bzw. in der ersten Hälfte der 80er Jahre jeweils in die Millionen.

Die Ursachen dieser Fluchtbewegungen sind vielfältig, wobei sich lokale, regio­nale und globale Faktoren gegenseitig überlagern und auch selbst verstärken. Das Bevölkerungswachstum, eine falsche Agrarpolitik, die Übernutzung der Agrarflächen (z.B. Überweidung), die Desertifikation und die Vernichtung der tropischen Regenwälder, sind die wesentlichen Ursachen.

Erkenntnisse der Klimaforschung deu­ten darauf hin, daß die beiden Dürren in Afrika keine isolierten Einzelphäno­mene, sondern Teil großräumlicher Klimaveränderungen sind. Dabei ist die­ser Prozeß weniger durch eine kontinu­ierliche Verschlechterung gekennzeich­net, als durch eine Häufung extremer Klimaereignisse oder Klimaanomalien. Dürren bei ausbleibenden Niederschlä­gen in einer Region oder Zeit scheinen lediglich die Kehrseite von massiven Überschwemmungen in einem anderen Gebiet oder zu anderer Zeit zu sein.

In den dürregefährdeten Gebieten in Afrika war in den letzten Jahren eine auffällige Häufung von extremen Über­schwemmungen zu beobachten, die mehrere Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben.

Während zwischen der offensichtlich unausgewogenen Niederschlagssituation im Sahel und in ähnlichen Krisenregio­nen Afrikas eine Verbindurig mit dem "Treibhauseffekt" nur angenommen werden kann, so gelang es der Klima­forschung, für den pazifischen Raum zwischen der durch den Menschen ver­ursachten Erwärmung der Erdatmo­sphäre und dortigen extremen Wetter­eignissen Zusammenhänge nachzuwei­sen. Dabei sind Klimaanomalien wie tropische Wirbelstürme oder Über­schwemmungskatastrophen stärker und/oder länger andauernd als bisher. Dieser Trend hängt mit der erwär­mungsbedingten Intensivierung und großräumigen Umstellung der atmo­sphärischen Zirkulation zusammen, wo­durch die regionale Niederschlagsver­teilung akzentuiert bzw. die Nieder­schlägsintensität gesteigert oder umge­kehrt durch Ausbleiben von Nieder­schlägen (Dürren) verringert wird. Auch an der ozeanisch, geprägten Ostküste Afrikas und in der Karibik konnten in den letzten Jahren vermehrt intensive Wirbelstürme mit katastrophalen Folgen registriert werden, wobei auch hier eine Verbindung mit dem steigenden Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre und de­ren Erwärmung möglich ist. Verkürzt kann man die These formulieren, daß der "Treubhauseffekt" - hauptsächlich verursacht durch die ständig steigende Emission von Kohlendioxid durch Ver­brennung fossiler Energieträger in den Industriestaaten - in der Dritten Welt sehr umfangreiche Flüchtlingsströme in Bewegung setzt.

Neben den bisher genannten massiven Flüchtlingsströmen, die durch anthropogen verursachte Klimaveränderungen ausgelöst wurden, droht durch die zu­nehmende Erwärmung der Erdatmo­sphäre bzw. den dadurch verursachten Meeresspiegelanstieg eine weitere und noch umfangreichere Kategorie von Umweltflüchtlingen. Die Verteilung der Weltbevölkerung weist hohe Konzen­trationen in küstennahen Regionen auf, und der angenommene Meeresspiegelanstieg - 8 - 29 cm bis 2030, 21 - 71 cm bis 2070 - wird weite Küstentiefländer, darunter auch große Teile der besonders fruchtbaren und dicht besiedelten Flußmündungsdeltas z.B. von Nil, Ganges oder Yangtze - überfluten und Millionen der dort lebenden Menschen zum Ver­lassen ihres Siedlungsgebietes zwingen. Während der bisherige Anstieg des Meeresspiegels eine Folge der Erwär­mung der obersten Ozonschichten sowie des Abschmelzens der Gebirgsgletscher war, wird dieser Trend in Zukunft durch einen Rückgang der Schelfeisgebiete der Antarktis und der Arktis noch über­lagert werden.

 

4. Umwelttlüchtlinge durch anthropogen verursachte Katastrophen

Diese dritte Kategorie von Umweltflüchtlingen umfaßt die direkt vom Menschen verursachten Migrationsbe­wegungen aufgrund von technischen Eingriffen in die Natur, wie den Bau von Staudämmen oder den großräumli­chen Abtrag von Rohstoffen im Tage­bau, aber auch durch technikbedingte Unfälle oder durch industriell verur­sachte Umweltverschmutzungen. Schließlich kann zu dieser Flüchtlingskategorie noch die Landflucht gezählt werden, die als die derzeit massivste Fluchtbewegung einzustufen ist.

Eine Auswertung von 51 Staudamm­projekten ergab, daß im Zuge der Über­flutung ausgedehnter Landstriche hinter den Staumauern etwa 1,5 Mio. Men­schen ihre Dörfer verlassen mußten. Beispielsweise waren dies 120.000 Ägypter und Sudanesen seit der Fertig­stellung des Aswan-Staudammes, über 50.000 Menschen in Zambia und Zimbabwe wegen des Kariba-Dammes, 90.000 Pakistanis infolge des Nanela- ­und weitere 86.000 wegen des Tarbela­-Dammes sowie rund 80.000 Ghanesen beim Bau des Volta-Staudammes. Zu den größten Dämmen, die derzeit gebaut werden, zählt das Sadar-Sarovar-Projekt in Indien; rund 300.000 Menschen, dar­unter viele in traditionellen Stammesge­sellschaften lebend, werden ihre Sied­lungsgebiete verlassen müssen.

Vergleichbar hiermit ist die Zwangsum­siedlung von 30.000 Menschen bis 1980 in der ehemaligen DDR, deren 75 Ort­schaften dem Braunkohle-Tagebau zum Opfer fielen. In der UdSSR hat die jahrzehntelange Ableitung von Wasser aus dem Aralsee für die Bewässerung von Reis- und Baumwollplantagen völlig versalzenes und verpestetes Wasser zu­rückgelassen; weitflächige Austrock­nung, Verwüstung und lokale Klimaver­änderungen sind zusätzliche Konsequenzen. Bereits 15.000 Fischer haben die Stadt Aralsk verlassen, da der See vor dem ökologischen Tod steht und keine Fische mehr enthält. Fast 3 Mio. Menschen in der Region sind direkt in ihrer Existenz bedroht.

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 ist der wohl bekann­teste technische Unfall, der Umwelt­flüchtlinge verursacht hat. Laut Prawda wurden in den Jahren nach der Reaktor­explosion 90.000 Menschen aus dessen Umgebung umgesiedelt, nachdem die Behörden in den Tagen nach der Kata­strophe 100.000 Menschen evakuiert hatten. Im Jahre 1990 lebten noch im­mer rund 2,2 Mio. Personen in verstrahlten Gebieten der Ukraine und in Weißrussland, wovon laut Tass noch 119.000 aus nuklear verseuchten Zonen evakuiert werden müssen. Ein anderer technischer Unfall war der Brand in ei­nem Munitionsdepot in der sibirischen Stadt Jurga im September 1990 - etwa 20.000 Bewohner von Jurga und den umliegenden Orten wurden evakuiert. In Bulgarien haben Einwohner der 250.000 Menschen zählenden Stadt Russe an der Donau der Regierung in Sofia im Oktober 1990 mit einer Massenflucht ge­droht, falls die seit Jahren aus einem rumänischen Chemiewerk nach Russe treibenden Chlorgaswolken nicht ver­hindert würden. In einem Schreiben an die UN-Generalversammlung ersuchten die Bürger von Russe andere Staaten um die Gewährung von "ökologischem Asyl".

Eine weitere Kategorie von Umwelt­flüchtlingen bilden die von der Land­flucht in die Städte vertriebenen Men­schen. Die Landflucht ist die gegenwär­tig umfangreichste Fluchtbewegung in der Dritten Welt und dehnt die Urbani­sierung in Agglomerationen nie gekannten Ausmaßen rasch aus. Der Be­griff Urbanisierung" beschreibt den symptomatischen Folgeprozeß der Landflucht und gleicht einer Passivfor­mulierung unter Ausklammerung der Ursachen. Ein Hauptgrund für den dra­matischen Verstädterungsprozeß liegt im alarmierenden Anwachsen der Erdbevölkerung. Im Unterschied zu den meisten anderen Fluchtbewegungen ist die Landflucht ein unilinearer Prozeß, der die Menschen zumeist dauerhaft in die Megastädte, treibt - eine Chance auf Rückkehr in die Heimatgebiete, zu denen oft alle Beziehungen abbrechen, steht für diesen Typ von Flüchtlingen kaum in Aussicht. Aufgrund ihres schleichenden Charakters ist diese Fluchtbewegung selbst kaum wahrzu­nehmen, sondern wird erst in ihren Auswirkungen sichtbar, d.h. im rasanten Wachstum der Megapolis in der Dritten Welt und dort besonders in den ausufernden Slum- und Squattersiedlungen der urbanen Peripherie. Diese Elendsquartiere sind gleichsam die Flüchtlingslager der verarmten ländli­chen Bevölkerung.

Für Afrika können folgende Angaben zum Umfang der Landflucht gemacht werden: Nach Dekaden betrug die An­zahl der Abgewanderten 1o Mio. (1950-1960), 15 Mio. (1960-1970), 26 Mio. (1970-1980) und 39 Mio. (1980-1990), nochmals 50 Mio. werden ihre ländliche Heimat voraussichtlich bis zur Jahrtau­sendwende verlassen haben. Insgesamt verlassen in der Dritten Welt jeden Tag 140.000 Menschen ihre Dörfer in der Hoffnung auf ein besseres Leben in den Metropolen. Weltweit lebt bereits rund eine Milliarde Menschen in städtischen Elendsvierteln, und die Zahl der dort Obdachlosen wird auf 100 Mio. ge­schätzt.

 

5. Schlußbetrachtung

Das Problem der Umweltflüchtlinge wird in der gegenwärtigen Flüchtlings­diskussion, -forschung und -politik noch bei weitem verkannt. Die quantitative Dimension des Problems der Umweltflüchtlinge übersteigt das Problem der vom UNHCR registrierten "politischen

Flüchtlinge" bereits um ein Vielfaches, aber den Umweltflüchtlingen kommt kein vergleichbares Instrumentarium zu Hilfe. Die Mittel des "United Nations Disaster Relief Co-ordinator" (UNDRO) sind zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben viel zu gering, so daß private Hilfe sowie staatliche Unterstützung auf bilateraler und multilateraler Ebene für Umweltflüchtlinge weiterhin von zen­traler Bedeutung bleiben.

Ein realistischer Blick auf die Ursachen der massiven Ströme von Umwelt­flüchtlingen zeigt, daß mit raschen oder einfachen Lösungen dieses Teilaspekts des Weltflüchtlingsproblems nicht zu rechnen ist. Vielmehr ist zu erwarten, daß das weiter steigende Bevölkerungswachstum und der rasant und global voranschreitende ökologische Zer­störungsprozeß die Probleme in Zukunft eher noch verschärfen werden. Nicht nur die Staaten in der Dritten Welt sind aufgefordert, z.B. den ökologisch de­struktiven Raubbau an den tropischen Regenwäldern zu stoppen, auch und vor allem die Industriestaaten in Ost und West müssen die Folgen ihres Wirt­schaftens grundlegend überdenken, das das Nord-Süd-Gefälle in den Weltwirtschaftsbeziehungen stetig vergrößert und das zudem Umweltprobleme glo­balen Ausmaßes verursacht.

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