Frieden und Versöhnung

Vergangenheitsbewältigung durch Friedensdienste

von Ulrich Frey

Der Krieg und jegliche kriegerische Gewalt waren und sind Geißeln der Menschheit. Friedensdienste versuchen solcher Gewalt vorzubeugen und tragen zur Bewältigung ihrer Folgen durch Erziehung, Bildung und Bewusstseinsbildung bei. (1)

Einen moralischen Anfang von Friedensdienst im Taumel des beginnenden 1. Weltkrieges markiert die Gründung des „Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen“ Anfang August 1914 in Konstanz. Der Ausbruch des Krieges am 1. August 1914 unterbrach die Gründungskonferenz. Die ausländischen Delegierten wurden in plombierten Eisenbahnwaggons zur deutschen Grenze gebracht. Zwei Teilnehmer, der spätere Friedensnobelpreisträger Dr. Friedrich Siegmund-Schultze und sein Freund, der englische Quäker Henry Hodgkin, verabschiedeten sich auf dem Kölner Hauptbahnhof mit dem Versprechen, in ihren Ländern im Sinne des biblischen Friedensgebotes gegen Hass, Militarisierung und Feindschaft tätig zu werden. Im Jahre 1919 wurde dann unter Mitwirkung beider im niederländischen Bilthoven bei Utrecht der Internationale Versöhnungsbund gegründet.

Französisch-deutsche Versöhnung
Ein zweiter Versuch, eine Alternative zum Krieg auf den Weg zu bringen, war ein „internationaler Zivildienst“. Auf Initiative von Pierre Cérésole, Pazifist und Sohn eines Schweizer Bundespräsidenten, hatte sich im Winter 1920/1921 in dem französischen Dorf Esnes bei Verdun eine Gruppe von Freiwilligen aus mehreren europäischen Ländern versammelt, unter ihnen Deutsche und Franzosen.(2) Nach Beendigung von Bauarbeiten bot Cérésole an, bei der Entminung und dem Wiederaufbau der vom Krieg verwüsteten Felder zu helfen. Der zuständige Präfekt verlangte, dass die „Feinde Frankreichs“ aus der Gruppe ausschieden. Die Gruppe stellte die Arbeit konsequenterweise ein, weil ohne Bereitschaft zur Versöhnung ein solcher Dienst weder angeboten noch angenommen werden konnte. So scheiterte der Versuch, die „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschen und Franzosen zu durchbrechen, an mächtigen Feindbildern und politischen Blockaden.(3) Der später gegründete Service Civil International (SCI) arbeitet bis heute als Hilfs- und Sozialdienst.

Ein nachhaltiger Akt der Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen gelang aber während der schwierigen Zeit der Besetzung des Rheinlandes durch Frankreich (1923 – 1925). Der französische Leutnant Etienne Bach wurde im Februar 1923 nach Recklinghausen befohlen. Als Nachrichtenoffizier sollte er auch Kontakte zum evangelischen und katholischen Klerus herstellen. Am Karfreitag 1923 besuchte er einen evangelischen Gottesdienst in Datteln. Eigentlich wollte er zur Vermeidung von Zwischenfällen wegen der gereizten öffentlichen Stimmung nicht an der Feier des Abendmahles teilnehmen, tat es dann aber doch. Bestürzt bemerkte er, dass er am Altar mit seinem deutschen Gegner, dem Bürgermeister Wille, zusammentreffen würde. Den sollte er auftragsgemäß verhaften. Das tat er nicht, ging aber auch nicht zurück. Auch Bürgermeister Wille war bestürzt. Beide nahmen das Abendmahl nebeneinanderstehend. Am nächsten Tag trafen sie sich wie umgewandelt im Stadthaus. Bach sagte zu Wille: „Nach dem, was uns gestern widerfahren ist, können wir nicht mehr die bisherige Haltung bewahren. Ich erkenne Ihre Treue zu den Pflichten, die Sie Ihrem Vaterland gegenüber haben. Das Gleiche soll auch für mich gelten. Sind Sie aber einverstanden, dass wir – ganz unter uns – einen Ehrenkodex schließen? Ich verpflichte mich, von Ihnen nur das absolut Notwendige zu verlangen und Ihnen die Form zu überlassen, in welcher Sie diesen Befehl ausführen, bitte Sie aber Ihrerseits, mich als ‚ehrlichen Gegner’ zu betrachten und mir keine unnötigen Schwierigkeiten zu bereiten!“ (4) Zwischen beiden entwickelte sich ein auskömmliches Verhältnis. Bach schied später aus der französischen Armee aus und gründete die Vereinigung „Chevaliers du Prince de la Paix“, woraus der Christliche Friedensdienst (CFD) in England, Holland, Belgien, der Schweiz und in Deutschland (hier später: Young Action for Peace – CFD) entstand.

Nach dem Zweiten Weltkrieg
Die Lehren aus der Katastrophe des 2. Weltkrieges führten nach 1945 zur Entstehung von neuen Freiwilligen- und Friedensdiensten in Deutschland und Europa. Mit EIRENE, Internationaler Christlicher Friedensdienst, erschien 1957 ein dezidierter Friedensdienst. Der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Dr. Willem Visser’t Hooft, gerade von einer Reise in das vom Unabhängigkeitskrieg zerstörte Algerien zurück, bat die TeilnehmerInnen des in Genf tagenden Komitees der historischen Friedenskirchen und des Internationalen Versöhnungsbundes bei einem Abendessen am 18. Februar 1957 zu überlegen, ob man nicht in Nordafrika einen „Dienst der Versöhnung zwischen den Völkern“ einrichten könne. Er sollte sich an die breite Bevölkerung wenden und von Christen in christlicher Liebe, ohne politische oder militärische Motive, geleistet werden. Zugleich sollte der deutschen Bundesregierung damit ein Modell eines sinnvollen Alternativdienstes für Kriegsdienstverweigerer vorgeschlagen werden. Im September 1957 wurde die Organisation EIRENE in Chicago offiziell aus der Taufe gehoben. Die Grundidee war, so der Mitbegründer Peter Dyck vom Mennonite Central Committee (MCC/USA), „nicht bei den Regierungen, sondern unter den gewöhnlichen Menschen die christliche Botschaft von Vergebung und Versöhnung zu verbreiten. Nicht soviel in Worten als vielmehr im praktischen und sichtbaren Beispiel des Dienstes.“(5) Noch vor Einrichtung des zivilen Ersatzdienstes für Kriegsdienstverweigerer in Deutschland reisten deutsche Kriegsdienstverweigerer als Freiwillige 1960 nach Marokko aus. Sie wurden von den deutschen Behörden später nicht mehr zum Zivildienst einberufen. EIRENE wurde 1971 als Träger des Entwicklungsdienstes nach dem Entwicklungshelfer-Gesetz anerkannt und verfolgt heute auch Programme des sozialen Lerndienstes.

Ein zweites Beispiel, wie Lehren aus dem von Deutschen verursachten Desaster nach 1945 gezogen worden sind,  ist die Gründung der Aktion Sühnezeichen.  Lothar Kreyssig richtete im April 1958 den Aufruf „Wir bitten um Frieden“ an die Mitglieder der noch gesamtdeutschen Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland  in Berlin-Weißensee: „Wir Deutschen haben den Zweiten Weltkrieg begonnen und schon damit mehr als andere unmessbares Leiden der Menschen verschuldet; Deutsche haben in frevlerischem Aufstand gegen Gott Millionen von Juden umgebracht. Wer von uns Überlebenden  das nicht gewollt hat, der hat nicht genug getan, es zu verhindern. Wir haben vornehmlich darum noch keinen Frieden, weil zu wenig Versöhnung ist. Dreizehn Jahre sind erst in dumpfer Betäubung, dann in angstvoller Selbstbehauptung vergangen. Es droht zu spät zu werden. Aber noch können wir, unbeschadet der Pflicht zu gewissenhafter politischer Entscheidung, der Selbstrechtfertigung, der Bitterkeit und dem Hass eine Kraft entgegen setzen, wenn wir wirklich vergeben, Vergebung erbitten und dieses Gesinnung praktizieren …“(6). Lothar Kreyssig, Mitglied der Bekennenden Kirche und Vormundschaftsrichter in Brandenburg an der Havel, hatte ab 1940 als einziger deutscher Richter gegen die von der Nazi-Führung betriebene systematische und massenhafte Ermordung von Behinderten (Euthanasie-Morde) gekämpft und war deshalb des Amtes enthoben worden.  Aus seinem Aufruf entstand zunächst in beiden Teilen Deutschlands, dann nach der Vereinigung in Gesamtdeutschland, das Versöhnungswerk der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, durch das viele junge Menschen für die Zukunft lernten, Menschenwürde und Menschenrechte zu respektieren. 

Die Heidelberger Thesen von 1959 über „Krieg und Frieden  im Atomzeitalter“ lösten in der Bundesrepublik unter dem Eindruck des Kalten Krieges zwischen Ost und West und der damit verbundenen Wiederbewaffnung der Bundesrepublik eine heftige Debatte über Friedensethik und Friedensdienst aus.(7) Carl Friedrich von Weizsäcker formulierte in der 1. These: „Der Weltfriede wird zur Lebensbedingung des technischen Zeitalters“. Wolfgang von Eichborn (8) schrieb dazu in seinem grundlegenden Buch zum Friedensdienst „Freiwillige für den Frieden“: „Dem entspricht das neue Verständnis des Friedens, der nicht mehr als Pause zwischen den Kriegen verstanden wird. Dann muss auch regelmäßig der Friedensdienst an die Stelle des Kriegsdienstes treten. …[Junge Menschen] müssen in den Frieden eingeübt werden. Es geht darum zu reflektieren, welchen Beitrag ein befristeter Dienst junger Menschen dazu leisten kann.“ (S. 10) Und: „Im Friedensdienst wollen junge Menschen auf begrenzte Zeit einen Beitrag zum Abbau friedenshemmender und zum Aufbau friedensfördernder Strukturen leisten“. (S.9) Der Friedensdienst ist somit dem Militärdienst  (Friedenssicherung) als „moral equivalent of war“ (William James) vorgeordnet.

Weiterentwicklungen
Die Infrastruktur, die Formen und Akteure von Friedensdienst haben sich seither erheblich diversifiziert und verbessert. Aktiv sind zivilgesellschaftliche Initiativen und Gruppen aus Kirchen, aus dem katholischen Bereich insbesondere von Pax Christi (9), aus den sogenannten  historischen Friedenskirchen der Mennoniten, Brethren und Quäker sowie aus anderen gesellschaftlichen Bereichen. Waren es zu Beginn mehrheitlich Workcamps mit einer Dauer von bis zu 4 Wochen im Rahmen einer Kurzzeitpädagogik, so entwickelten sich mit anspruchsvolleren Aufgaben und stärkeren Trägerorganisationen mittel- und längerfristige Dienste für ganze Projekte und Dienste zur Entsendung und dem Empfang von einzelnen Freiwilligen im In- und Ausland. Als Kategorien von Friedensdienst werden traditionell unterschieden: Versöhnungsdienste, Hilfs- und Sozialdienste, Verständigungs- und Entwicklungsdienste (10). Sie werden kurzfristig (bis zu 4 Wochen), mittelfristig (2 bis 6 Monate) und längerfristig (7 – 24 Monate) angeboten. Eingeladen sind herkömmlicherweise Jugendliche und junge Menschen im Rahmen von Kinder- und Jugendhilfe mit teilweise staatlicher Förderung, in neuerer Zeit mehr und mehr auch Erwachsene.

Frieden ist heute nicht mehr das Gegenteil von Krieg, sondern ein Prozess, der „in innerstaatlicher wie in zwischenstaatlicher Hinsicht auf die Vermeidung von Gewaltanwendung, die Förderung von Freiheit und kultureller Vielfalt sowie den Abbau von Not gerichtet“ (11) ist. Friedensdienst orientiert sich heute an den Kriterien Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Beispielhaft sei erwähnt die Aktion „Frieden mit den Völkern der Sowjetunion“ (12) von 1987 bis 1990 aus Anlass des 50. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22.6.1941, der 25 Millionen Tote zur Folge hatte. Friedensgruppen aus West- und Ostdeutschland organisierten zahlreiche nachhaltige Begegnungen mit Kommunen und Organisationen in der Sowjetunion – gegen den damals noch starken ideologischen Antikommunismus. Als erstmals nach dem 2. Weltkrieg in Europa ab 1989 im Kosovo und ab 1991 im zerfallenden Jugoslawien kriegerische Gewalt und blutige Kriege mit der Bundesrepublik Jugoslawien ausbrachen, versuchten Friedensgruppen aus Deutschland und vielen anderen Ländern, mit gewaltfreien Unternehmungen, Vermittlungsbemühungen, Friedensmärschen und humanitären Aktionen zugunsten der Opfer und Flüchtlinge (u.a. Balkan Peace Team (13), „Den Krieg überleben“) militärische Gewalt zu verhindern oder ihre Folgen zu mildern. Kurzfristige Begegnungen und Workcamps mündeten in längerfristigen Projekten, u.a. in professionellen Vorhaben des Zivilen Friedensdienstes (ZFD). So sind Friedensdienste heute eine „Grundschule“ für fachliche Dienste der zivilen Konfliktbearbeitung und für Maßnahmen von Transitional Justice, ohne allerdings deren institutionellen Leistungen erbringen zu wollen.

Anmerkungen
1 Vgl. ausführlicher: Hagen Berndt, Frieden und Demokratisierung: Fast 100 Jahre freiwillige Friedensdienste, in: Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden e.V. (Hrsg.) , Gewaltfrei streiten für einen gerechten Frieden, Oberursel, 2008

2 Dieter Claessens, Dieter Danckwortt, Jugend in Gemeinschaftsdiensten. Eine soziologisch-psychologische Untersuchung über die Arbeit in den Internationalen Jugendgemeinschaftsdiensten, Juventa-Verlag, München, 1957, S.  11 ff

3 Wolfgang von Eichborn, Freiwillige für den Frieden, Kohlhammer, T-Reihe, 1970, S. 66

4 Gertrud Kurz, Im Dienst des Friedens, Johannes Kiefel Verlag, Wuppertal-Barmen, Die Brücke, 1966,  S. 5 ff

5 Ulrich Frey, Einflüsse der ersten Geschäftsstellen, in: EIRENE, Internationaler Christlicher Friedensdienst (Hrsg.), „Chronik 1957 – 2007“, 50 Jahre EIRENE-International, Neuwied, S. 54-55

6 Gabriele Kammerer, Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Lamuv, 2008, S. 12; siehe auch: Susanne Willems, Lothar Kreyssig – Vom eigenen verantwortlichen Handeln, Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Göttingen, 1995; Konrad Weiß, Lothar Kreyssig – Prophet der Versöhnung, Bleicher Verlag, 1998

7 Gegenstand des Streites war die beim Evangelischen Kirchentag 1967 in Hannover gebrauchte Formel vom „Friedensdienst mit und ohne Waffen“, die das Verhältnis zwischen Kriegsdienst und Friedensdienst nivellierte und nicht zugunsten des Friedensdienstes ohne Waffen zum Ausdruck brachte.

8 Gründer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden e.V. (AGDF), in der viele Friedensdienste zusammengeschlossen sind.

9 Hermann Pfister (Hrsg.), Pax Christi, Friedensbewegung in der Katholischen Kirche, Waldkircher Verlagsgesellschaft, 1980

10 Wolfgang von Eichborn, a.a.O, S. 64

11 Rat der EKD, Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Gütersloh, 2007, S. 54

12 Arbeitsgemeinschaften Solidarische Kirche Westfalen und Lippe u.a. (Hrsg.), Versöhnung mit den Völkern der Sowjetunion, Herausforderungen zur Umkehr,  Eine Thesenreihe, Gütersloh, 1987; Evangelische Akademie Baden (Hrsg.), Friede mit der Sowjetunion, Beiträge zur Aussöhnung, Konsultation der landeskirchlichen Friedensausschüsse und der christlichen Friedensdienste in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Akademie Baden, März 1987

13 Siehe u.a. Barbara Müller, Balkan Peace Team 1994 – 2001. Mit Freiwilligenteams im gewaltfreien Einsatz in Krisenregionen, Arbeit und Leben, 2004, S. 9 ff.

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Ulrich Frey ist Mitglied im SprecherInnenrat der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.