Facetten aus Europa

Verpolizeilichung des Militärs, Militarisierung der Polizei?

von Heiner Busch
Schwerpunkt
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In Europa verschwimmen die Trennlinien zwischen Polizei und Militär. Ein gefährlicher Prozess, der allerdings nicht mit traditionellen Notstandskonzepten verstanden werden kann.

Am 15. November 2017 wurde der (wegen terroristischer Anschläge verhängte) Ausnahmezustand in Frankreich außer Kraft gesetzt. Am 15. November 2018 begannen die Proteste der „gilets jaunes“. Bis zum 15. November 2019 haben 24 Menschen ihr Augenlicht verloren, weil sie von einem Gummigeschoss getroffenen wurden – abgefeuert aus dem LBD 40, dem „lanceur de balles de défense“ – dem „Verteidigungskugelwerfer“ vom Kaliber 40 mm. Die Police Nationale und die Gendarmerie setzen bei Demonstrationen auch Tränengasgranaten ein, die mit einem lauten Knall explodieren und CS-Gas freisetzen, oder Schockgranaten, die auch einen grellen Blitz abgeben. Immer wieder hat es dabei schwere Verletzungen – großflächige Wunden, abgerissene Gliedmaßen u.ä.m. – aber auch Todesfälle gegeben.

In Deutschland finden sich Schockgranaten nur im Repertoire der Spezial- oder Mobilen Einsatzkommandos (SEK, MEK). Bei Demonstrationen setzen die deutschen Polizeien neben Schlagstock und Wasserwerfer auf die diversen Tränengase, heute insbesondere auf Pfefferspray. Anders als in den meisten europäischen Staaten konnte hierzulande eine Aufrüstung mit Gummigeschossen in den 1980er Jahren verhindert werden.

Die Palette der „weniger tödlicher Waffen“ hat sich seit den 1960er Jahren erheblich verbreitert. Ursprünglich vor allem von Kolonialtruppen eingesetzt, sollten sie effizient Gehorsam einbläuen aber gleichzeitig ein Blutvergießen – und damit eine Welle der Solidarität – vermeiden. Offiziell ist in Frankreich bezeichnenderweise von „armes intermédiaires“ die Rede, von Waffen also, bei denen es nicht so ganz klar ist, ob sie militärische oder polizeitypische sind.

Auslandseinsätze
Die „weniger tödlichen Waffen“ sind keineswegs der einzige Punkt, an dem die Trennung von Polizei und Militär undeutlich wird. Diese Trennung gehörte traditionell zu den Errungenschaften liberaler Demokratien. Vom Ausnahmezustand abgesehen, hat das Militär in diesem Schema nur die Aufgabe der nach außen gerichteten Sicherung des Staates, während die Polizei sich um sein befriedetes Inneres kümmert und dabei in ihren Mitteln und Befugnissen begrenzt und dem Recht untergeordnet ist. Seit den 1990er Jahren gehört dagegen die Floskel, dass äußere und innere Sicherheit nicht mehr „trennscharf“ auseinanderzuhalten seien, zu den ständig wiederholten Gemeinplätzen der „Sicherheitspolitik“.

Die Folgen zeigten sich zunächst bei den Auslandseinsätzen: Europäische Militärs übernehmen dabei nicht nur militärische Kampf-, sondern auch immer wieder quasi-polizeiliche Sicherheitsaufgaben. Umgekehrt wird von den zu EU-Missionen ins Ausland entsandten Polizeikräften erwartet, dass sie auch zu „robusten“ Einsätzen in der Lage sind. Integrated Police Units, deren Entsendung die EU seit 2004 plante, sollen bereits in der Frühphase einer militärischen Intervention zum Einsatz kommen und gegebenenfalls auch unter militärischem Kommando agieren. Dazu kommen in erster Linie Polizeien in Frage, die auch „zu Hause“ zumindest formal einen militärischen Status innehaben – etwa die französische Gendarmerie, die spanische Guardia Civil oder die italienischen Carabinieri. 2004 erfolgte die Gründung der European Gendarmerieforce (EGF). Sie ist kein stehendes „Heer“; vielmehr können die daran beteiligten europäischen Polizeien mit militärischem Status aus anfangs fünf Staaten innerhalb eines Monats 800 PolizistInnen für Auslandseinsätze mobilisieren. Die Eingliederung der EGF in den rechtlichen Rahmen der EU stand immer wieder zur Debatte, erfolgte aber bis heute nicht.

Seit 2009 ist eine Internationale Einsatz-Einheit der Bundespolizei (BPol) im Aufbau. Allerdings hat die BPol 1994 per Gesetzesänderung ihren Kombattantenstatus eingebüßt und darf deshalb nicht einem militärischen Kommando unterstellt werden. Der Einsatz deutscher Polizeikräfte in Auslandsmissionen ist daher nur als – im EU-Jargon – Formed Police Unit in militärisch sicheren Gebieten möglich.

Um diese Hürde zu überwinden, schlug die Stiftung Wissenschaft und Politik 2010 zwei Varianten vor: Entweder könne man eine ausschließlich für den Auslandseinsatz konzipierte und nur im Ausland einsetzbare Gendarmerietruppe innerhalb der BPol aufstellen, die weil sie nicht im Innern agiere und auch nicht die verfassungsmäßige Trennung von Polizei und Militär in Frage stelle. Oder man könne die Feldjäger, die Militärpolizei der Bundeswehr, für solche Einsätze aufbieten. Die wurden beispielsweise für die Ausbildung afghanischer PolizistInnen eingesetzt und sind mittlerweile bei fast allen militärischen Auslandseinsätzen mit von der Partie.

Militärische Hilfspolizei?
Was SoldatInnen im Ausland mit Erfolg meisterten, müsse ihnen auch im Inland erlaubt sein, propagierte Wolfgang Schäuble – damals nicht als Innenminister, sondern als Innenpolitik-Experte der CDU – schon im Juni 2000, noch bevor im September des folgenden Jahres der Terrorismus und die „asymmetrischen Kriege“ zur Pauschalrechtfertigung aufstiegen. Vor allem konservative PolitikerInnen wollten die Bundeswehr als einen Teil der „neuen Sicherheitsarchitektur“ verstanden wissen.

An der Heimatfront ist die Bundeswehr seitdem durch eine Reihe von speziellen Aufgaben an die innere Sicherheit herangerückt: Sie ist beispielsweise an der „Cyber-Abwehr“ beteiligt. Sie führt das „Nationale Lage- und Führungszentrum Sicherheit im Luftraum“. Und sie leistet Amtshilfe für die Polizei. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 oder beim G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm tat sie das mit mehreren Tausend SoldatInnen.

Ihr Einsatz als eine Art Hilfspolizei auch zum bewaffneten Objektschutz scheiterte 2006 am Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz. 2012 korrigierte das Gericht sein Urteil: Der Bundeswehreinsatz mit militärischen Waffen sollte nun auch in „ungewöhnlichen Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes“ möglich sein, worunter auch terroristische Anschläge fallen könnten. Im März 2017 fand die erste „Gemeinsame Terrorismusabwehr Exercise“ (GETEX) statt. Die tatsächliche Anwendung des neuen verfassungsrechtlichen Spielraums bleibt vorerst hypothetisch.

Explosiver Unsinn
Das aus Frankreich bekannte Bild der SoldatInnen, die in Bahnhöfen oder an anderen öffentlichen Orten schwer bewaffnet Wache schieben, wird vorerst in Deutschland nicht kopiert. Hier sind es – mit ähnlichen Waffen – PolizistInnen, die diese Aufgabe wahrnehmen, häufig übrigens die schlechter bezahlten Polizeiangestellten.

Die Terrorismusdebatte hat auch in der deutschen Polizei zu einer Aufrüstung geführt: Neue Spezialeinheiten der Bundespolizei (BFE+) sollen eine Stufe zwischen der GSG 9, die äußerst selten zum Einsatz kommt, und den SEK einziehen und für „robuste“ Einsätze sorgen. Nach und nach erhalten Länderpolizeien und BPol Survivor-Panzer; Sachsen hatte angekündigt, diese mit Maschinengewehren zu bestücken. Das mag zur Einschüchterung taugen. Tatsächliche Einsatzsituationen für schwere Waffen mit großer Streuwirkung sind jedoch definitiv nicht gegeben.

Fraglich bleibt auch, was die SEK aus Baden-Württemberg und Bayern mit den „Explosivmitteln“ anfangen wollen, die man ihnen in den neuen Polizeigesetzen bewilligt hat. Im besten Falle werden sie wie die alten Handgranaten im Arsenal verstauben und vergessen.

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