Was heißt Reform der UNO? Sieben Thesen

von Wolf-Dieter Narr

I. Ein Glück, dass die UNO erfunden wurde.
60 Jahre sind es her. Der Menschenmassen vernichtende Zweite Weltkrieg, vom nationalsozialistischen Deutschland inszeniert, war massenvernichtend in Europa und Ostasien/Japan zu Ende gebracht worden (allein das zur Realitätsbeschreibung unvermeidliche Wort "Massenvernichtung" steckt voll der Menschenverachtung. Das Axiom aller Menschenrechte, jeder einzelne Mensch zähle, geht hoffnungslos in der unsäglichen Mordzahl auf. Das ist noch die unvermeidliche Schuld selbst des Darüber-Redens). Nach erstem, gescheiterten Versuch am Ende des 1. Weltkriegs ("Völkerbund") gelang es, die Organization of United Nations ins Leben zu rufen (UNO). Ihr Gründungsmotiv: die moderne All- und Immerkompetenz des an sich nicht infrage gestellten Staates - und des Staatenrechts, Völkerrecht genannt -, Krieg nach seinem Geschmack zu führen, aufzuheben (sprich zu beseitigen und in Grenzen zu bewahren in einem). Staatskunst und Kriegshandwerk sollten nicht mehr in einem Atem wie eine Sache genannt werden können. Wenn man schon herrschaftsinteressenvoll keine Phantasie und keine Handhaben hatte, Krieg prinzipiell zu ächten und alle staatenbündlerisch denkbaren Vorkehrungen dagegen zu schaffen, wollte man den Krieg unter kollektiven Staatenbundesvertrag nehmen. Das ist die Geburt des Sicherheitsrats und seiner Lizensierungskompetenz von Kriegen. Diese staatskollektive Lizensierungskompetenz sollte die Anlässe und die Zahl der Kriege limitieren. Staatliche Souveränität ist seither prinzipiell eingeschränkt. Trotz der langen Blockade durch den paradoxen Krieg ohne Krieg, den Kalten, trotz der Kette von Kriegen und kollektiven Gewaltvorfällen unterhalb des faulen Kalten-Kriegs-Friedens, ist die Einrichtung der UNO als Orientierungsinstanz, als Hoffnung einer Welt ohne Krieg, als gelegentliche Mittlerin kriegsgewaltentkräfteter Konflikte ein weltpolitischer Gewinn, der sich in alle menschenbewohnten Regionen verbreitet. Ein wahrhafter Fortschritt - von der eng verflochtenen Wertetriade aus Menschenrechten, Demokratie und Pazifismus her gesprochen. Dieser Fortschritt im besten aufgeklärten, substantiell rationalen Sinne wurde am 10. Dezember 1948 durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit einem Normenkranz behängt, der - verwirklicht - den Frieden von den Bedingungen aus, in denen Menschen leben, von den sozialen Wurzeln her wahrscheinlicher machte.

II. Eine weitere Dimension des alten Themas: Politik und Lüge.
Fast alle (kollektiven) Einrichtungen von Menschen sind ambivalent (zwei- und mehrwertig, voll der Spannungen). Für die Einrichtung der UN gilt diese Beobachtung in besonderem Maße. Ist der Kalte Krieg, ist das Blutgemetzel der letzten Kolonial- und die Entkolonialisierungkriege, sind ganze humane Meere von Hunger, Elend und Krankheit, ist die dauernde Produktion von Ungleichheiten in den Lebenschancen von Menschen, sind Kriege bis zum letzten der USA und einiger Verbündeter gegen den Irak und sein Baath-Regime, die noch währenden gewalttätigen Auseinandersetzungen im Sudan, im Kongo, anders in Tschetschenien und an anderen Orten - ist solcher riesenhafter Blutzoll von den UN irgend verhindert oder auch nur begrenzt worden? Hat die UN nicht gerade dort versagt, wo sie von mächtigen Interessen stimuliert, dann blockiert, jedenfalls legitimatorisch tätig gewesen ist und tatenlos einem Genozid zusah? Das Doppelereignis Somalia und Ruanda/Burundi 1992/1993/1994. Die Wirklichkeitsmächtigkeit der UN als friedenspolitische Kraft ist überaus fragwürdig. Ihre Einrichtungen, nicht zuletzt der friedenspolitisch ausschlaggebende Sicherheitsrat, haben meist einseitig im Sinne der Interessen ihrer auch geldmächtigsten Mitgliedsstaaten funktioniert. Die NATO, einschließlich der BRD in ihrem ersten wahrhaften, deutschbewussten Kriegsauftritt nach 1945, haben 1999 die UN und ihren Sicherheitsrat zur vernachlässigbaren Sache erklärt. Gleiches tut die EU in ihrem Verfassungsdokument, das gegenwärtig Land für Land verabschiedet wird. Weltweit will die EU interventionsbereit stehen, wenn europäische Interessen im Spiel sind - wie immer man sie dann "humanitär" kamoufliere.

III. Eine Reform der UNO an Haupt und Gliedern wäre überfällig.
Damit besagte humane Kosten nicht die humanen Nutzen lügenspieglerisch übertreffen. Eine solche, an ihrem Grund und ihrem Kopf ansetzende Reform, ist unmöglich. So wie die etablierten Macht- und Herrschaftsbedingungen stehen. So wie ihre Veränderungsdynamik anzeigt, unbeschadet massiver Widersprüche und immer erneut aufflackernder Konflikte.

Kämen, sich sonst gerne kritisch nennende FriedensforscherInnen, kämen Sozial- und KonfliktforscherInnen allgemein ihren verdammten, nämlich beruflichen (und berufenen) Pflichten nach, sie arbeiteten radikal nüchtern an Geschichte, Gegenwart und dynamisch sich veränderndem, aber herrschaftsfest bleibendem Kontext der UN heraus, warum gerade im großen "Ja!" zur UN als Prinzip eines Kant nachempfundenen Weltfriedens ein ebenso großes, aber analytisch wohl begründetes und durchsichtiges "Nein!" stecken muss. Gegen die UNO wie sie installiert und unter sich verändernden Bedingungen geworden ist.

IV. Fast dem Frühling vergleichbar schwärmt die Luft voller Reformpollen.
Gut, wenn man nicht an Immunschwäche leidet. All die Reformideen und -ideechen best gesinnter Art wirkten, würden sie denn ausgeführt, bestenfalls wie Fassadenklemptner - wenn nicht Augenwischerei, so sie den Un-Stand, genannt UN nicht interessenborniert verschlimmböserten.

Länger zurückliegende oder in jüngeren Zeiten geäußerte Reformkonzepte zeichnen sich meiner bescheidenen Kenntnis nach durchgehend dadurch aus, dass sie zum einen viel zu viele Prämissen schon akzeptieren. Angefangen vom abstrakt staatenbündlerischen Charakter der UNO. Zum anderen montieren sie wunschdenkerisch an diesem oder jenem Filigran des bürokratischen Riesenkomplexes UNO, der nicht zufällig zu andauernden sachlichen und personalen Korruptionen führen muss. Diesem meinem begründeten bzw. hier aus Platzmangel nicht begründbaren Verdikt dürften meiner Kenntnis nach auch Vorschläge unterworfen werden müssen, die in diesem Heft artikuliert werden.

V. Wer mitten in der gegenwärtigen, kapitalistisch innovationsgetriebenen Globalisierung voll der Ungleichheiten, neuen Knappheiten und neu aufgekratzte Aggressionen schaffenden, mehr denn je sozialdarwinistischen Dynamik kosmopolitisch in Richtung Weltfrieden denkt und lokal/überlokal handelt, der muss zum einen Abschied nehmen von einer alten, modern qualitativ erneuerten Phantasie.
Sie oder er, wir alle müssen die Gymnastik unserer Einbildungskraft einem alten und zugleich neuen Ziel samt seinen enormen Organisierungsaufgaben widmen.

Das Abschiednehmen zuerst. Die UNO, so wie sie von staatsoben geschaffen weltoben ist, fasziniert darum so viele der besten Geister, weil sie insgeheim doch so etwas vorgaukelt wie eine Weltregierung. Wie viele, moralisch prall und trefflich gefüllten Gerechtigkeitswünsche werden allein auf den internationalen Strafgerichtshof gerichtet (ohne dass genauer gefragt würde, was derselbe leisten, was er auf keinen Fall erbringen kann; worin seine möglicherweise positiven, worin jedoch auch seine negativen Effekte bestehen und dergleichen menschenrechtsradikale sokratische Fragen mehr). So scheint es auch mit der UN und ähnlichen Einrichtungen zu gehen. Kaum dass noch die sozioökonomische und politische, die qua Größenordnung unvermeidlich bürokratische, also versachlicht, neuerdings technologisch herrschaftliche Logik solcher globalen Einrichtungen ausgelotet würde. Sind sie normativ einigermaßen wohlgefällig angestrichen - und diese Anstreichkunst beherrscht die Postmoderne des 21. Jahrhunderts besser als je zuvor -, dann richten sich alle möglichen hofferischen Projektionen auf sie. Das ist verständlich. Überlokale und überregionale, manche sogar weltweiten Einrichtungen sind schon allein um der schwierigen Koordinationen willen notwendig. Das ist auch verständlich. Wie hielte man sonst lastenden Jammer aus. Wer traute sich 20 Jahre unter den gegenwärtigen Bedingungen in die graue, vielleicht grauenvolle Zukunft zu sehen?! Und doch ist das, was man psychoanalytisch projektive Identifikation nennt, ungemein gefährlich. Man gerät in Gefahr, den eigenen Kopf fernhin auf irgendeine große Institution/Person/ein Konzept/Programm zu delegieren. Man schließt die Augen und betreibt Institutionen/Personen-Mystik. Man unterlässt, das Tapfere, das um Gottes willen - so einmal Zwingli - zu tun wäre: den Forderungen des Tages im Nah- und im erreichbaren Fernbereich gerecht zu werden. (Fast) alles, was mit Weltregierendem zu tun hat, mit dem, was im neueren Jargon global or cosmopolitan governance genannt wird, lebt von solchen säkular Gott erwünschelnden Projektionen.

VI. Phantasie, wie es der unvergessene C.W. Mills genannt hat, sociological (and political) imagination ist nötiger denn je.
Hier handelt es sich freilich um ein Verlangen nach Innovationen, die gegenwärtig nicht erwünscht sind. Soziale (institutionelle) Innovationen sind unvermeidlicherweise darauf angelegt, herrschende Einrichtungen, ihre Positionen und Prozeduren, infrage zu stellen. Das aber steht am meisten an. Das Problem politischer Organisation im weiten Sinne ist das Problem unserer Zeit. Allein die gegebenen Größenordnungen machen neue organisatorisch/institutionelle, aber eben soziale, nicht bürokratisch-technologische Lösungen dringlicher und zugleich schwieriger denn je. Viele der Größenordnungen, das gilt auch für die meisten, mehr oder minder versäumten Aufgaben der UN, lassen sich nicht unvermittelt soziopolitisch gestalten. Sie müssen traubenförmig verkleinert und stängelähnlich miteinander verbunden werden.

Das heißt u.a., Einrichtungen und ihre Mitglieder, die weltbezogene, Frieden ermöglichende Aufgaben angehen sollten, sind nicht zuerst weltweit als UNO, nahezu 200 Staaten umfassend, von oben zu bilden. Gerade, wenn man, die wichtigste friedenspolitische Triebkraft ernst nimmt, die zur UNO führte und die noch alle Projektionen auf sie heute motiviert, gerade dann muss man beispielsweise bundesdeutsch und noch darunter, muss man europäisch in und wider die EU ansetzen, um UN-gerichtete regionale, nationale und europäische Organisationen zu schaffen - oder anderswo regional vergleichbar -, die global nötigen Aufgaben, regional soweit anzugehen suchten, wie dies möglich ist. Aller Interdependenz zum Trotz ist regional ungleich mehr möglich und nötig, als man in Richtung des globalen, auch der UN geltenden Verschiebebahnhofs denkt. Würde so und anders hier und dort auf diesem Globus angesetzt, könnte sich so etwas wie eine Infrastruktur bilden. Diese könnte dann vielleicht einmal so etwas wie eine freilich ganz andere UNO gründen und vermitteln, keine Staatenorganisation mehr auf konkurrenzkapitalistischer Grundlage und mit Funktionen, die der Grundlage dienen.

VII. Denkt man in erfahrener und also disziplinierter Phantasie eine andere UN, dann bildet eine geordnete Vielfalt politischer, ökonomischer und kultureller Organisations-, Verhaltens- und Umgangsmuster den zentralen Bezug.
Solche Vielfältigkeit, das ist der ferne, jedoch nicht illusionäre utopische Bezug, ist weder denkbar in einer kapitalistisch dynamisierten Hobbes`schen Staatenwelt, noch gar denkbar in einem Hobbes`schen Überstaat, und das gar noch auf wahrhaft illusionärer demokratischer Grundlage. Die von allem modernen Anfang an überaus ambivalente Rationalität des staatlichen Gewaltmonopols und seiner inneren und äußeren Gewalt- und Kriegsversicherungen mit dem Danaergeschenk bürgerlicher Sicherheit, hat Gewalt, geschützt als staatlich legitimierte Gewalt, permanent präsent gehalten. Nicht bürgerliche Selbstorganisation zusammen mit den anderen und angesichts des anderen stellte sich als Aufgabe. Letztere bestand primär in der Sicherung des Monopols, seiner Inhaber und der vom Monopol gegen andere und Andersartigkeiten gerichteten, exkludierenden Funktionen (vgl. die Lagerbildungen heute).

Was und wie eine Menschenrechte aller sichernde Welt ohne konkurrierende Gewaltmonopole geschichtlich realistisch zu denken ist und plural organisiert werden könnte - das ist wahrhaft ein weites Feld, das mit begrenzten Thesen nicht einmal ausgeflaggt werden kann. Die Richtung, in der Frieden auf dieser Welt im 21. Jahrhundert, moderneerfahren angestrebt und vorstellungskräftig ausgedacht werden muss, sollte jedoch angedeutet werden.

Auf diese Weise reichen sich das große "Ja!" zur UN und das unvermeidliche demokratisch-menschenrechtliche "Nein!" am Schluss die Hände. Sie streben gleichsam Hand in Hand in Richtung eines Dritten, eine Noch- Nicht. Das müsste regional verbindlich und experimentell zugleich anheben.

Der Text wurde von der Redaktion minimal gekürzt.

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Wolf-Dieter Narr ist Hochschullehrer, Mitbegründer und langjähriger Sprecher des Komitee für Grundrechte und Demokratie