Methoden und Wirkungsweisen

Wie funktioniert Soziale Verteidigung?

von Martin Arnold
Schwerpunkt
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Tschechoslowakei, 21.-27. 8. 1968: Reformen führten 1968 in der ČSSR zu einem „Sozialismus mit menschlichem Gesicht", dem „Prager Frühling“. Doch am 21. August sollte „der Sozialismus gerettet“, die größere Freiheit gewaltsam beendet werden. Panzer aus der Sowjetunion und anderen ‚sozialistischen Bruderländern‘ fielen in das Land ein. Die Entscheidung für gewaltfreien Widerstand gegen die Invasion machte das Radio sofort bekannt. Einige Kompanien landeten im Wald statt in Prag: Straßenschilder waren verdreht – GPS gab es noch nicht. Und Einheimische stellten sich ihnen in den Weg. Und sie redeten mit ihnen: „Die Meinungen des Volks sind jetzt in der Politik gefragt! Wir reden mit, öffentlich und auch in offiziellen politischen Sitzungen! Nicht mehr die Partei bestimmt jetzt unsere Bürgermeister, sondern wir alle wählen sie! Sozialismus geht auch mit Freiheit!“
Die Soldaten wurden von solchen Ideen angesteckt – und nach drei Tagen ausgewechselt. Jahre später erzählte mir ein junger Mann in der DDR, dass er zu den ausgetauschten Soldaten gehörte. An den Zielorten angelangt, hinderte ziviler Widerstand die Invasoren, die politische Macht zu übernehmen – bis er abgebrochen wurde. Der Abbruch führte zur Rücknahme der Reformen. Doch solange Widerstand geleistet wurde: eine Woche, war er erfolgreich. Denn jede Herrschaft ist auf Gehorsam angewiesen. Während die Bevölkerung möglichst normal weiterlebte, gehorchte sie den Invasoren nicht. Wie Soziale Verteidigung (SV) funktioniert, ist an diesen Ereignissen erkennbar.  

Bedrohungen abwenden
Wie können wir – kollektiv oder einzeln – auf Bedrohungen oder Angriffe reagieren? Manchmal ist Flucht möglich, manchmal (zeitweise) Unterwerfung klug, manchmal Widerstand. Dieser ist auf zwei Arten möglich:
a) Schädigung der Angreifenden („Gewalt“) soll bewirken, dass diese nicht mehr angreifen können. Wie? Angriffsmittel wegnehmen oder zerstören; Angreifende kampfunfähig machen oder töten.
 b) Ziviler Widerstand soll bewirken, dass die Angreifenden nicht mehr angreifen wollen. Wie?
1. „Den Gegner zum Freund gewinnen“, d.h. zur Mitwirkung an der Überwindung des Konflikts; ihn so, z.B. auf Verbundenheit oder im Gewissen ansprechen, dass die Angriffsmotivation schwindet: „Vertrauen aufbauen und Paroli bieten“ (B. Bläsi); Dialog.
2. Nichtzusammenarbeit mit dem Missstand: keine Unterstützung; Ressourcen, auch Angriffsmittel, entziehen; nicht gehorchen.

Grundelemente zivilen Widerstands
Zwei Einsichten sind für Haltung und Methodik sowie Wirkung und Erfolg grundlegend:
1. Unterscheidung von Tat und Täter. Menschen („Täter“), die einen Missstand stützen („Tat“), können wirksam darauf angesprochen werden, ihre Unterstützung abzubauen. Denn alle Menschen möchten eigentlich zum Guten beitragen und können dies. Diese in uns allen schlummernde Fähigkeit nannte Gandhi Satjāgrah: Kraft aus Wahrheit und Liebe, Gütekraft, Kraft der Gewaltfreiheit. Was jeweils das Gute ist, darüber kann es Streit geben. Aber dass Menschen zu töten nicht gut ist, wissen alle. Innerhalb Organisationen gibt es wie im Innern des einzelnen Menschen oft Zweifel an der Richtigkeit vor allem brutaler Tätigkeiten. Zweifel schüren, sodass ‚Sicherheitskräfte‘ nicht mehr wunschgemäß ‚funktionieren‘ oder sich gar offiziell vom Befehlsgeber lossagen, ist ein sehr wirksames Mittel des gewaltfreien Vorgehens. Wenn sie nicht mehr gehorchen, wird Herrschaft schwierig, auch Diktatur wie 1986 in den Philippinen, sie nannten es „Würde anbieten“: https://t1p.de/PeoplePower. Dialogbereitschaft auch mit den politisch Verantwortlichen ist unter allen Umständen wichtig.
2. Herrschaft braucht Gehorsam. Darum kann sie in dem Maße geschwächt werden, wie diejenigen, die beherrscht werden sollen, Gehorsam und Zusammenarbeit verweigern.
Bei Widerstand gegen Herrschaftsversuche ist mit Repression zu rechnen. SV gegen einen Gegner, der bereit ist zu töten, kann deshalb die gleiche Bereitschaft erfordern, das Leben einzusetzen, wie sie von Soldat*innen gefordert wird – mit dem Unterschied, dass niemand bedroht wird und keine Bedrohungsgefühle zu Aggression führen.

Wirkungsweisen Sozialer Verteidigung
Was vom 21. – 27. 8. 1968 in der ČSSR geschah, war unvorbereiteter, dennoch in seiner kurzen Zeit effektiver Ziviler Widerstand. SV als Sonderfall davon gegen Militärs braucht normalerweise Vorbereitung, um effektiv zu sein. Ihre Hauptwirkungselemente sind trotzdem in vielen Beispielen spontanen zivilen Widerstands erkennbar.
1. Psychische (mentale) Wirkungselemente
1.1 Informationen und Stärkung des Zusammenhalts sind besonders gegen Repressalien wichtig. Täglich um 12 Uhr zeigten 1968 Massen auf der Straße durch Lärm mit Töpfen und Deckeln ihre Entschlossenheit zum Widerstand nach außen und nach innen. Das Radio informierte. Mit der Einnahme des Senders war zu rechnen, rechtzeitig wurde ein Untergrundsender aufgebaut und ein weiterer in Österreich, unerreichbar für die Invasoren.
In Ägypten wurden 2011 für diese Ziele vor allem Facebook und Twitter genutzt.
1.2 Mit den Invasoren reden. In Prag umringten Menschenmassen die Panzer. Sie luden Soldaten als potenzielle Freunde ein, am Abbau der Missstände (Invasion und Diktatur) mitzuwirken: „Fahrt nach Hause, führt dort freiheitlichen Sozialismus ein!“
Auch in Ägypten solidarisierten sich Soldaten auf dem Tahrir-Platz gegen die Diktatur.
Gegenbeispiel: In nationalistischer Verblendung wurden 1923 im Ruhrkampf weder Soldaten vor Ort angesprochen noch auf Regierungsebene Kontakte mit den Invasoren geknüpft. Dies und weitere Gründe führten trotz anfänglichen Erfolgs (s. 2.2) zum unrühmlichen Abbruch des Widerstands.
1.3 Dritte können manchmal helfen. Der Ruhrkampf-Konflikt wurde durch den Dawes-Plan aus den USA überwunden.
2. Physische Wirkungselemente
2.1 „Dynamische Weiterarbeit“: Um SV über längere Zeit zu ermöglichen, muss die Versorgung der Bevölkerung aufrechterhalten werden.
2.2 Aktive „Nichtzusammenarbeit“: Am 21.8.1968 stoppten kleine Gruppen auf der Straße Panzerkompanien, u.a. verdrehte Straßenschilder verzögerten den Vormarsch nach Prag um einen ganzen Tag.
Im Ruhrkampf verzögerte der „passive Widerstand“ die Kohlelieferungen: Eisenbahner und Bergleute streikten und legten den Bahnverkehr lahm, indem sie Bolzen aus Lokomotiven unter ihrem Bett versteckten, Schienen am Berg mit Schmierseife rutschig machten usw. In den ersten drei Monaten kam so weniger Kohle in Frankreich an als vorher in zehn Tagen. (Der Erfolg wurde nicht genutzt, vgl. Artikel von Barbara Müller in diesem Heft.)
Ein Beispiel starker physischer Wirkung zeigt der Kapp-Putsch 1920. Der große Generalstreik behinderte die Putschisten bei der Machtübernahme, weil Telefon, elektrisches Licht, Gas und Wasser nicht funktionierten. Beamte gehorchten dem „neuen Reichskanzler“ nicht, nach vier Tagen floh er.
Das alles heißt: Durch SV-Methoden wird militärische Machtübernahme oder Herrschaft unmöglich bzw. wirtschaftlich / politisch so teuer, dass sie aufgegeben wird.

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