Frontex, EU Navfor Med, NATO

Zurück zum Normalzustand?

von Heiner Busch

Freizügigkeit und offene Grenzen im Innern Europas könne es nur geben, wenn gleichzeitig die Außengrenzen abgeschottet seien. Dies ist das Credo der EU seit den 90er Jahren. Um diesen europäischen „Normalzustand“ wiederherzustellen, baut die EU nicht nur ihre Grenzschutzagentur Frontex aus. Sie setzt auch auf den Einsatz von Militär.

 

Der Normalzustand kostete in den letzten zwei Jahrzehnten Tausenden von MigrantInnen und Flüchtlingen das Leben. Er stützte sich auf ein kontinuierlich ausgebautes Grenzschutz-Dispositiv. Seit 2005 verfügt die EU mit Frontex auch über ein gemeinsames organisatorisches Instrument. Die Aufgaben der Grenzschutzagentur reichen von Risikoanalysen über die Forschung zu neuen Technologien und dem Betrieb des Grenzüberwachungssystems Eurosur bis hin zu Sammelabschiebungen und gemeinsamen Operationen an den Außengrenzen.

Das Frontex-Personal wuchs bis 2010 von 72 auf rund 310 MitarbeiterInnen an und pendelte sich dann zunächst ein. Für gemeinsame Operationen steht der Agentur ein „Pool“ von derzeit rund 2.000 Bediensteten aus den Grenzpolizeien der Mitgliedstaaten zur Verfügung. Seit 2007 darf Frontex auch Soforteinsatzteams entsenden, die innerhalb weniger Tage mobilisiert werden können.

 

Vorhersehbare Katastrophen

Frontex ist zum Synonym für die Abschottung der europäischen Grenzen und für die Ignoranz Europas gegenüber den tödlichen Folgen dieser Politik geworden. Im Oktober 2013 starben 366 Flüchtlinge und MigrantInnen vor Lampedusa bei dem bis dahin größten Unglück eines Flüchtlingsschiffes. Die italienische Regierung reagierte mit ihrer Operation Mare Nostrum und ließ die Marine des Landes bis weit vor die afrikanische Küste patrouillieren. Rund 150.000 Menschen wurden in einem Jahr gerettet. Im Oktober 2014 weigerte sich die EU jedoch, diese Operation zu übernehmen.

An deren Stelle trat nun eine von Frontex organisierte Aktion namens „Triton“ – mit weniger Schiffen und eingeschränktem Radius. Im Vordergrund stand nun wieder der „Schutz“ der Grenzen. Nicht jeder Anruf über ein Satellitentelefon von Bord eines Flüchtlingsbootes sei auch ein Notruf, schrieb der Direktor für operative Missionen der Grenzschutzagentur, der deutsche Bundespolizist Klaus Rösler, im Dezember 2014 an die italienische Regierung.

Erst eine neuerliche Katastrophe schien die EU zu beeindrucken. Zwischen 800 und 900 Menschen starben in der Nacht zum 19. April 2015, als ein libyscher Kutter rund 150 Kilometer nördlich der Küste des Landes sank. An eiligst einberufenen Sitzungen der Innen- und der Außenminister am 20. April und der Staats- und Regierungschefs am 23. April heuchelte man Betroffenheit: „Unmittelbare Priorität“ sei es nun zu verhindern, „dass noch mehr Menschen auf See umkommen“. Das Budget für die Frontex-Operationen Triton vor der italienischen und Poseidon vor der griechischen Küste wurde verdreifacht und entsprach damit mehr oder minder den Kosten der zuvor abgewürgten italienischen Operation Mare Nostrum.

 

Militärische Schleuserbekämpfung?

Zugleich entdeckte man die „Schleuser“ als die vermeintlich eigentliche Ursache der Migration über das Mittelmeer. Die EU-Außenbeauftragte sollte „unverzüglich“ eine Operation der „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ vorbereiten, entschied der EU-Gipfel im April 2015. Vorbild dazu sollte die Marinemission Atalanta zur Piraterie-Bekämpfung vor dem Horn von Afrika sein.

Am 18. Mai fasste der Rat der Außenminister seinen Beschluss. Ziel der „EU Navfor Med“ (Naval Force Mediterranean) ist demnach, „das Geschäftsmodell der Menschenschmuggel- und Menschenhandelsnetze im südlichen zentralen Mittelmeer zu unterbinden, indem systematische Anstrengungen unternommen werden, um Schiffe und an Bord befindliche Gegenstände, die von Schleusern oder Menschenhändlern benutzt oder mutmaßlich benutzt werden, in Einklang mit dem anwendbaren Völkerrecht, einschließlich des Seerechtsübereinkommens und etwaiger Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, auszumachen, zu beschlagnahmen und zu zerstören“.

Am 22. Juni startete Phase 1 der Operation – „Aufdeckung und Beobachtung von Migrationsnetzwerken“ durch das „Sammeln von Informationen“. Am 7. Oktober begann die Phase 2, die das „Anhalten, Durchsuchen, Beschlagnahmen und Umleiten“ verdächtiger Schiffe erlaubt. Der UN-Sicherheitsrat gab zwei Tage später sein Placet für solche Maßnahmen – allerdings nur auf hoher See. Die Resolution 2240 betont die Pflichten zur Seenotrettung und zur Beachtung der Rechte von Flüchtlingen.

Spätestens für das Eindringen in libysche Hoheitsgewässer, den zweiten Teil der Phase 2, bräuchte die EU eine neue UN-Resolution, die eine Gefährdung des Weltfriedens oder eine Angriffshandlung konstatiert, oder die Zustimmung der Regierung des Landes. Dies gilt erst recht für die in Phase 3 vorgesehene „Zerstörung oder Unbrauchbarmachung“ von Schiffen, die auch den Einsatz von Truppen an Land beinhalten könnte.

 

Quantensprung für Frontex

Seit September 2015 setzte die EU-Kommission alles daran, einen schnellen Weg zurück zum europäischen Normalzustand der „gesicherten“ Außengrenzen zu finden. Sie legte eine ganze Serie von Berichten und Vorschlägen auf den Tisch, die auch die Rolle von Frontex erheblich verstärken sollten. Die Agentur sollte eine zentrale Rolle bei den „Hotspots“, den Registrierungslagern an der Außengrenze spielen. Sie sollte direkt aus den Hotspots vermehrt „Rückführungen“ vornehmen und die Mitgliedstaaten durch ein „Return Office“ unterstützen. Im Dezember schließlich präsentierte die Kommission ein „Grenzschutzpaket“, das Frontex zu einer „Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenschutz“ weiterentwickeln soll. Künftig soll Frontex in weniger als drei Tagen 1.500 „ExpertInnen“ aus den angeschlossenen Grenzpolizeien aufbieten können. Bis 2020 soll das Frontex-eigene Personal auf rund 1.000 anwachsen. Gemeinsame Einsätze und Soforteinsätze sollen unter Umständen auch ohne die Zustimmung des betreffenden Mitgliedstaates möglich sein.

 

Und jetzt die NATO?

Auch im Osten des Mittelmeers soll unter dem Vorwand der „Schlepperbekämpfung“ das Militär bei der Lösung der „Flüchtlingskrise“ helfen. Auf deutschen Vorschlag beschloss die NATO-Ministerkonferenz im Februar 2016, den vom Einsatzgruppenversorger „Bonn“ angeführten Ständigen Marineverband 2 des Bündnisses mit der „Aufklärung, Überwachung und Beobachtung des Seegebietes zwischen den Küsten der Türkei und Griechenlands“ zu betrauen. Das soll in Kooperation mit Frontex sowie den Behörden Griechenlands und der Türkei geschehen. Letztere habe „zugesagt, auf See gerettete Flüchtlinge, die aus der oder durch die Türkei kommen, wieder aufzunehmen“, erklärte Verteidigungsstaatssekretär Ralf Brauksiepe am 17. Februar 2016, einen Tag vor dem geplanten EU-Türkei-Gipfeltreffen, vor dem Bundestag. „Die Menschen, die aus Seenot gerettet werden, haben einen Anspruch darauf, in einen sicheren Hafen gebracht zu werden. Sie haben keinen Anspruch darauf, in ein Land oder einen Hafen ihrer Wahl gebracht zu werden. Genau diese Voraussetzung eines sicheren Hafens erfüllen auch die türkischen Häfen.“ Das Non-Refoulement-Gebot stehe dem nicht entgegen.

Einen Monat später einigten sich die EU und die Türkei auf einen Deal, der auch die Rückschiebung von „illegal eingereisten“ Flüchtlingen aus Griechenland ermöglichen soll – nach einer „Einzelfallprüfung“, die wohl nicht einmal das Papier wert ist, auf dem ihr Ergebnis festgehalten wird.

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