Die Friedensbewegung der 1980er Jahre

Vom Kampf gegen die Raketenstationierung zur Debatte über neue Aspekte der Friedenssicherung

von Martin Singe
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„Angst. Eine deutsche Gefühlslage?“ - so lautete der Titel einer Sonder-Ausstellung im Haus der Geschichte in Bonn, die bis Mai 2019 gezeigt wurde und vor allem die Themenbereiche Zuwanderung, Atomkrieg, Umweltzerstörung und Überwachung behandelte. Am Ende der Ausstellung wurden die BesucherInnen gebeten, eine aktuelle Bewertung zu den als am größten gefühlten Bedrohungen abzugeben. Angst um den Frieden und die Klimaentwicklung lagen sehr deutlich vorne.

Die Friedensbewegung der 1980er Jahre, die sich vor allem gegen die atomare „Nachrüstung“ der NATO wandte, wurde oft – teilweise bis heute – als „Angst“-Bewegung abgetan. Dabei ist Angst eine zutiefst menschliche Kategorie, sie kann lähmend wirken, sie kann aber auch motivieren, sich gegen die Ursachen der Angst zu wehren.

Und es ging angesichts der möglichen atomaren Katastrophe in Europa – ja weltweit – immer nicht nur um die mögliche Auslöschung des eigenen Lebens, der Nahestehenden, der eigenen Stadt oder gar Europas, sondern immer auch um die Angst/Sorge, sich am Völkermord an der „anderen“ Seite mitschuldig zu machen, indem man diese Massenmordinstrumente tolerierte. Denn die Bereithaltung von Atomwaffen umfasst die Bereitschaft zu dem ungeheuerlichsten Verbrechen gegen die Menschheit.
Bereits 1957 schrieb Günther Anders in seinen „Geboten des Atomzeitalters“ unter anderem: „Sei nicht zu feige, Angst zu haben! Zwinge dich, denjenigen Ertrag an Angst aufzubringen, der der Größe der apokalyptischen Gefahr entspricht.“ Die der Größe der Bedrohung angemessene Angst zu unterdrücken, mache indolent (gleichgültig) und führe zu einer „Beschränktheit des Fühlens“ – so Anders weiter.

Hunderttausende unterwegs für atomare Abrüstung
Die also berechtigte Angst war mit auslösend für die größte Mobilisierung der Friedensbewegung in den 1980er Jahren, in denen Hunderttausende, ja Millionen weltweit gegen einen neuen atomaren Rüstungswettlauf aufstanden, der u.a. durch den „Nachrüstungsbeschluss“ der NATO vom 12.12.1979 ausgelöst wurde. So kam es nach kleineren Protesten zu den Großdemonstrationen zunächst im Juni 1981 mit 100.000 Menschen beim Evangelischen Kirchentag in Hamburg und dann im Oktober 1981 mit 300.000 Menschen im Bonner Hofgarten. Anlässlich des Besuches von US-Präsident Reagan im Juni 1982 kamen 400.000 Menschen zum Protest nach Bonn. Kurz vor der Stationierung versammelten sich am 22. Oktober 1983 Hunderttausende zur erneuten Großdemo im Bonner Hofgarten, zur Menschenkette zwischen Ulm und Stuttgart sowie zu Großdemos in Hamburg und Berlin. Blockaden fanden in Bonn u.a. vor dem Verteidigungsminister und in Bremerhaven statt. Weitere Großdemonstrationen folgten in Brüssel am 23. Oktober 1983 mit 400.000 Menschen und in Den Haag am 29. Oktober 1983 mit 550.000 Menschen.

Auf die Friedensbewegung in der DDR, die unter ungleich schwierigeren repressiven Bedingungen arbeiten musste, kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Ihr Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ (Micha 4) griff das Symbol eines Denkmals auf, das die Sowjetunion der UNO geschenkt hatte. Die Umbrüche 1989 sind wesentlich von der DDR-Friedens- und Bürgerrechtsbewegung ausgelöst worden. Ebenfalls kann hier nicht auf die Strukturen und Organisationsformen der Friedensbewegung in der BRD in den 1980er Jahren (vgl. Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung) eingegangen werden.

Nach dem Stationierungsbeschluss des Bundestages am 22. November 1983 trat zunächst eine gewisse Lähmung ein. Man hatte den Preis zwar in die Höhe getrieben – immerhin um die Kosten eines Regierungswechsels –, aber die Stationierung von 108 Pershing-II-Raketen und 96 Cruise Missiles in der Bundesrepublik nicht verhindert (in Westeuropa insgesamt 464 Cruise Missiles). Hatte die Bewegung versagt? Ich denke, man kann hier ein klares Nein sagen, auch wenn die Tatsache der Stationierung erst einmal vollzogen wurde.

Protest und Demonstrationen gingen weiter
Die Massenproteste, die sich von 1980-1983 auf die neuen Atomwaffen konzentrierten, hatte zu einem völlig neuen Bewusstsein in der Bevölkerung zu diesen Massenvernichtungswaffen geführt. Eine deutliche Mehrheit ist seitdem bis heute klar und eindeutig gegen die Bereithaltung und Drohung mit Atomwaffen. Dabei geht es nicht nur darum, Angst vor der eigenen Vernichtung zu haben, sondern auch darum, selbst nicht mit Massenvernichtungswaffen drohen zu wollen und zu dürfen. U.a. in den Kirchen wurde diese Debatte sehr leidenschaftlich und kontrovers geführt: Ist die Drohung mit Atomwaffen eine  „noch“ erlaubte Option? Während die Kirchenleitungen um ein klares Nein herumeierten, hatte die Basis längst entschieden: Für ein NEIN ohne jedes Ja! Erinnert sei an die lila Tücher auf dem  Kirchentag 1983 in Hannover.

Oft wird schon mit dem Jahr 1983 das Ende der neuen Friedensbewegung beschworen. Doch dieser Legendenbildung muss widersprochen werden. Denn die Demonstrationen gingen in verschiedenen und teils radikaleren Formen weiter. In Mutlangen entstand die Kampagne „Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung“. Tausende blockierten die dort (und in Heilbronn und Neu-Ulm) stationierten Pershing-II-Raketen. Ebenfalls begannen kontinuierliche Blockadeaktionen am Cruise-Missiles-Standort in Hasselbach/Hunsrück. Die massenhaften Strafprozesse gegen die Blockierenden nach dem Nötigungsparagrafen 240 StGB wurden oft genug zu politischen Manifestationen. 1986 einigte sich der Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung nach heftigen Kontroversen auf eine Großdemonstration in Hasselbach, an der über 100.000 Menschen teilnahmen. Erneut kamen rund 100.000 Menschen 1987 in Bonn zusammen, um kurz vor Abschluss des INF-Vertrages zur Abrüstung der landgestützten nuklearen Mittelstreckenwaffen gegen den Versuch Kohls zu demonstrieren, mit den Pershing-IA-Raketen einen neuen Stolperstein gegen das Abkommen zu errichten. (Die Sowjetunion hatte auch die Abrüstung der im Besitz der Bundesluftwaffe u.a. in Geilenkirchen befindlichen Pershing I-A-Raketen (Sprengköpfe im US-Besitz) gefordert, was die Regierung Kohl zunächst ablehnte. Erst auf vielseitigem politischen Druck hin willigte die Bundesrepublik dann ein, diese Raketen ohne weitere Gegenleistungen abzurüsten.) So haben die kontinuierlichen Proteste der Friedensbewegung gemäß etlicher politischer Einschätzungen auch konkret dazu beigetragen, dass sich die Politik der „Null-Lösung“, also dem Abzug aller Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten, nicht mehr widersetzen konnte. Mitunter wird gemutmaßt, dass auch die Ernennung Gorbatschows und die Glasnost-Politik in der Sowjetunion ohne die Friedensbewegungen im Westen, die ja auch einen Ausdruck von entspannungspolitischem Willen darstellten, nicht so möglich gewesen wären. Auch 1988 gab es noch eine größere Demonstration – in Linnich/Glimbach gegen eine neue NATO-Kommandozentrale.

Das Aktionsspektrum der Friedensbewegung wurde deutlich erweitert
Nach 1983 erweiterte sich das Spektrum der Themen, zu denen protestiert wurde, deutlich, auch wenn etliche weitere Punkte als nur die Atomwaffen bereits in den Demo-Aufrufen von 1980-83 enthalten waren und auch schon eine wichtige Rolle bei den lokalen Friedenswochen Ende der 1970er Jahre spielten, wie etwa die globale Gerechtigkeitsfrage. Im „Friedensherbst 1984“ gab es Aktionen zur Manöverbehinderung im Fulda Gap, eine Verweigerungskampagne und Mittelamerikatage. 1985 wurde gegen den neuen Nato-Bunker in Linnich mobilisiert. In der kirchlichen Friedensbewegung gab es schon seit Längerem einen „Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“. Viele Initiativen hatten im Kontext kapitalismuskritischer Analysen die Themen „Gerechtigkeit/Ausbeutung“ und „Ökologie“ auf die Tagesordnung der Friedensbewegung gesetzt. So haben sich viele der in den 1980er Jahren Aktiven nicht nur weiterhin in der Friedensbewegung, sondern auch in der Eine-Welt-Bewegung, in der Flüchtlingsunterstützung oder in Umweltinitiativen engagiert.

Debatten über alternative Sicherheitspolitik mit breiter Beteiligung
Im Hintergrund der Aktionen der 1980er Jahre standen ausführliche Debatten über Alternativen zur Abschreckungspolitik mit der Drohung gegenseitiger Vernichtung. Alternative und nicht-militärische Sicherheitskonzepte wurden ausformuliert und politisch eingefordert. Hier seien nur Stichworte genannt: Soziale Verteidigung; Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit/strikte Defensivkonzepte; Institutionen gemeinsamer Sicherheit; Gradualismus; einseitige Abrüstungsschritte; Stärkung von KSZE, UNO usw. Insgesamt fand in gewisser Weise eine breite Alphabetisierung in Sicherheitspolitik statt, die diese Fragen nicht mehr den „ExpertInnen“ überließ. Auch in Soldatenkreisen wurden immer deutlicher kritische Stimmen laut. Soldaten des Darmstädter Signals protestierten mit gegen die nukleare Aufrüstung und setzten sich für alternative Verteidigungskonzepte ein.

Nach den 1980er Jahren hatte sich die Bedrohungsanalyse verschoben. Mit dem Golfkrieg 1991 wurde klar, dass die nächsten aktuellen Kriege „out of area“ stattfinden würden. Die Bundeswehr wurde entsprechend zur „Armee im Einsatz“ umgerüstet. Die westlich-kapitalistisch globalen Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnisse bestimmen die Agenda der neuen Kriege und weltweiten Fluchtbewegungen. So bedarf es heute größerer Empathie und gewissermaßen einer altruistischen Haltung, wenn man die eigene Stimme gegen (nur) geographisch weit von uns entfernt stattfindende Kriege erheben will. Diese Kriege betreffen uns natürlich anders als etwa ein Krieg in Mitteleuropa.

Mit der Kündigung des INF-Vertrages Anfang 2019 und den neuen nuklearen Modernisierungs- und Aufrüstungsvorhaben rückt jedoch auch die reale Gefahr atomarer Eskalation wieder verschärft in den Blick. Wir dürfen uns an die Existenz der Atomwaffen nie gewöhnen. Es gilt aktuell, gegen die Atombomben in Büchel, gegen die nukleare Teilhabe der Bundesrepublik in der NATO und für den Beitritt zum Atomwaffen-Verbotsvertrag der UN und so für eine atomwaffenfreie Welt zu streiten.

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".