Frauen

Frauenrechte in Afghanistan

von Wahida Kabir

Das Thema Frauenrechte in Afghanistan ist sehr vielschichtig und kompliziert. Besonders kompliziert ist es geworden, als die westliche Militärmacht, an der Spitze die USA und die NATO, dieses Thema neben weiteren wichtigen Themen wie Menschenrechte, Wiederaufbau, Demokratisierung, Befriedung Afghanistans nach 35 Jahren Krieg und Zerstörung, für ihre Interventionszwecke instrumentalisiert haben.

Aufgrund der propagandistischen Ausnutzung dieses Themas durch diejenigen, die das Verbleiben der westlichen Truppen nach 2014 in Afghanistan befürworten und somit den Krieg fortsetzen wollen, ist eine realistische Betrachtung der Lage der Frauen äußerst schwierig. 

Um einen seriösen Vergleich der Lage der Frauen in Afghanistan vornehmen zu können, wäre es zunächst zwingend erforderlich, die genauen Maßstäbe zu definieren, auf deren Grundlage ein Vergleich überhaupt durchgeführt werden soll, um eventuelle Verschlechterungen bzw. Verbesserungen festzustellen.

Soll man den Fortschritt der Frauenrechte im Vergleich zu der Situation der afghanischen Frauen in den letzten 30, 40 oder 50 Jahren auf allen Ebenen der traditionell geprägten afghanischen Gesellschaft betrachten? Oder soll man die Lage der afghanischen Frauen im Vergleich zu den im Westen lebenden Frauen sehen? Sollte eine Beurteilung nicht vielmehr auf der Basis der universalen Menschenrechtskonvention erfolgen? Ist ein Vergleich anhand des kulturellen und religiös vorherrschenden Wertekodex ein Maßstab in der afghanischen Gesellschaft? Inwieweit spielt der Islam eine Rolle bei den  Frauenrechten? Hierbei stellt sich wieder die Frage, welche Lesart des Islams zugrunde gelegt werden soll, da es ein breites Spektrum der verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten (von modernistisch bis streng traditioneller Auslegung) der islamischen Quellentexte gibt.

Aus soziologischer Sicht gibt es in der afghanischen Gesellschaft, die seit 40 Jahren aufgrund von Auswanderung, Flucht und Vertreibung sowie kriegerischen Auseinandersetzungen von sozialer Umwandlung geprägt ist, keine homogene Betrachtung und Auffassung vom Islam. Es finden sich zum großen Teil sowohl sehr konservative Ansichten als auch teilweise modernistische Betrachtungsweisen, die oftmals sehr gegensätzlich erscheinen.

Und nicht zuletzt stellt sich bei einer Beurteilung der Lage der Frauen in Afghanistan die Frage, ob die in den Dörfern und Provinzen lebenden Frauen gemeint sind oder aber die städtische Frauen, denn seit den 1950er Jahren sieht man auch hier eine sehr offensichtliche Diskrepanz zwischen dem Leben in der Stadt und auf dem Land.

Die aufgeworfenen Fragen verdeutlichen, dass es aufgrund der vielfältigen Vergleichsmöglichkeiten und der unterschiedlichsten zu berücksichtigenden Aspekte nahezu unmöglich ist, eine generelle und umfassende Einschätzung zur Verbesserung oder Verschlechterung der Lage der Frauen in Afghanistan abzugeben. Es wird immer nur ein Teilausschnitt bezüglich einer bestimmten Schicht von Frauen in einem bestimmten Kontext berücksichtigt.

Aus diesem Grund wird an dieser Stelle eine Beschreibung der aktuellen Situation in Afghanistan erfolgen und ein Ausblick auf mögliche Handlungsansätze gegeben.

Patriarchale Gesellschaft
Der Kontext, in dem sich die afghanischen Frauen heute befinden, ist die rückständige patriarchalisch geprägte orientalische Gesellschaft. Die Männer bestimmen, wie eine Frau in unterschiedlichen Bereichen des sozialen Lebens zu positionieren ist, d.h. wie ihre Stellung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu sehen ist. Männer definieren den Aktionsraum der Frauen in der Gesellschaft, sowohl aus der kulturellen und religiösen Weltanschauung als auch aus weltlicher Perspektive. In solch einer von Männern dominierten Welt werden Frauen wie Gegenstände behandelt und als Besitztum angesehen, welches den Männern gehört. Sie werden definiert über ihren Status als Ehefrau, Mutter oder Tochter und haben selbst keine eigene Identität. Sie werden nicht als Individuen wahrgenommen.

Um diese Sichtweise zu verändern und die Menschenwürde der Frauen zu schützen, bedarf es einer kollektiven Umerziehung der Gesellschaft insgesamt über einen Zeitraum von mehreren Generationen, begleitet durch einen kontinuierlichen Prozess von Bildung und wirtschaftlicher Entwicklung.

In den letzten 12 Jahren sieht man in Afghanistan Ansätze, wie z.B. die Einführung von Quoten in der Politik und Verwaltung, um die Präsenz von Frauen in der Gesellschaft zu ermöglichen. Diese Situation ist allerdings nur in einigen Städten Afghanistans, auf nicht sehr solider Basis zu beobachten. Als Beispiel nehme man das so genannte Parlament in Afghanistan – so genannt, weil seine Mitglieder meistens mittels Wahlbetrugs ihre Mandate erworben haben. Dort wurden (bis auf einige wenige Ausnahmen) fachlich inkompetente und beruflich unqualifizierte Frauen als Mandatsträgerinnen eingesetzt, die wiederum von der Mehrheit der Männer für ihre eigene Politik ausgenutzt werden. Die in diesem Parlament ohnehin vorherrschende Korruption ist kein Geheimnis und wurde durch den dritten Platz Afghanistans auf der Liste der weltweit korruptesten Administrationen und Regierungen bestätigt. Besonders die Stimmen der Frauen wurden am billigsten gekauft und verkauft.

Was die zunehmende Gewaltanwendung gegen Frauen in Afghanistan betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass dies nicht ausschließlich für Afghanistan gilt, sondern ein Phänomen ist,  das überall auf der Welt in unterschiedlicher Intensität zu beobachten ist. Im Falle Afghanistans ist zu berücksichtigen, dass es sich seit mehr als 35 Jahren im Krieg befindet, was jeden Tag erneute Gewalt, Zerstörung und Vertreibung hervorruft. Offensichtlich sind die Schwächeren der Gesellschaft, nämlich Frauen und Kinder, in mehreren Hinsichten die Opfer von Gewalt in einem Krieg.

Ein weiteres Phänomen ist, dass Frauen sich zunehmend selbst Gewalt antun, um Aufmerksamkeit zu erlangen oder als Verzweiflungstat. Den Frauen wird suggeriert, dass sie einklagbare Rechte haben, jedoch gibt es keine Rechtsstaatlichkeit, keine Institutionen, um diese Rechte durchzusetzen. Das System beherbergt eine auf alle Ebenen durch Korruption erkrankte Justiz, die bei ihrer Aufgabe zur Wahrung und Sicherung von Rechten –insbesondere den Frauenrechten- kläglich versagt. Diese Situation ruft bei den Frauen, die oft erstmals von ihren Menschenrechten erfahren haben und so Erwartungen geweckt wurden, besondere Enttäuschung und Frustration hervor.

Auch nach 2014 muss die Lage der Frauen in Afghanistan in dem oben beschriebenen Kontext gesehen werden. Es ist fatal, anzunehmen, dass die afghanischen Frauen so handeln, denken und sich kleiden wie die Frauen im Westen. Ebenso kann nicht davon ausgegangen werden, dass afghanische Frauen für ihre Rechte so kämpfen, wie es in Deutschland oder allgemein im Westen geschieht, unabhängig davon, dass auch die Frauen im Westen –selbstverständlich auf einem ganz anderen Niveau – für ihre Rechte kämpfen mussten und in manchen Bereichen weiterhin müssen.

Wir können nicht mit demselben Konzept das Problem von hier und in Afghanistan lebenden Frauen behandeln und heilen. Zum Beispiel bedeutet die finanzielle Unabhängigkeit für eine orientalische Frau nicht automatisch Anerkennung und Schätzung ihrer Würde als gleichwertiger und gleichberechtigter Mensch mit selbstständiger Identität.

Die Erfahrung zeigt, dass in der orientalisch islamischen Gesellschaft Frauen über ihr Wesen als Mutter, Tochter oder Ehefrau hinaus als eigenständige Persönlichkeit nur dann akzeptiert werden, wenn sich ihr Kampf und Engagement zur Erreichung dieses Zieles innerhalb der religiösen und kulturellen Rahmenbedingungen der aktuellen Gesellschaft bewegt. Die Respektierung der islamischen Moralvorstellung ist zwingende Voraussetzung, um überhaupt in der Gesellschaft auftreten zu können.

Bedingungen für die Durchsetzung von Frauenrechten
Menschenrechte und Frauenrechte werden nicht durch beten, predigen oder Export von Ideologien erreicht und schon gar nicht durch Krieg, Bombardierung, Waffenexport, militärische Invasionen oder Errichtung von Militärbasen.

Laut einer Umfrage im Jahre 2011 in 53 islamischen Ländern sind drei Merkmale wesentlich für die Durchsetzung von Frauenrechten: Bildung, wirtschaftlicher Fortschritt und eine offene Gesellschaft bzw. demokratische Ordnung.

Was die afghanischen Frauen am allerdringendsten benötigen, ist die Durchsetzung eines Rechtes auf Selbstbestimmung, insbesondere zur Verhinderung von Zwangsheiraten (oft schon im Kindesalter). Daneben muss der Zugang zu Bildung in einem gesicherten Umfeld ermöglicht werden. Die Familien schicken ihre Kinder nur dann zur Schule, wenn sie sicher sind, dass die Mädchen nicht Belästigungen aller Art ausgesetzt sind. Eine versteckte Kamera beobachtete in Kabul eine ganz normale Straße, auf der ein Mädchen auf seine Familienangehörigen wartete, um abgeholt zu werden. Innerhalb von 17 Minuten haben 83 Autos bei diesem Mädchen angehalten und sie mit anzüglichen Bemerkungen aufgefordert, einzusteigen. Dieses Beispiel zeigt das Ausmaß der Belästigungen, denen die Frauen zurzeit in Kabul und anderen afghanischen Städten ausgesetzt sind. Das gleiche gilt auch für die Arbeitswelt. Demzufolge ist hier die Geschlechtertrennung eine sehr wichtige und pragmatische Handlungsbasis.

Nur ein sanfter Prozess, der die kulturellen und religiösen Werte der afghanischen Gesellschaft berücksichtigt und in diesem Kontext Bildung, wirtschaftliche Entwicklung und die Durchsetzung von Menschenrechten in einem friedlichen gesellschaftlichen Umfeld vorantreibt, kann langfristig zu mehr Respekt und Anerkennung der Frauen in Afghanistan beitragen.

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Wahida Kabir lebt seit 1979 in Deutschland, ist verheiratet und hat drei Kinder, MA Islamwissenschaft, Orientalistik und Politikwissenschaft.