2014 und danach

Afghanistan im Spannungsfeld der Interessenkonflikte

von Abdul Kader Wadan

Das Jahr 2014 und die unmittelbar danach folgenden Jahre sind für Afghanistan in vielerlei Hinsicht schicksals- und zukunftsbestimmend. Im April dieses Jahres stehen die Präsidentschaftswahlen mit Machtwechsel an der Spitze des Staates, Ende 2014 müssen die Invasionstruppen aus 49 Ländern, unter Führung der USA und NATO, nach 13 Jahren modernem Kolonialkrieg geschlagen abziehen. Dabei versuchen die USA und ihre Verbündete mit allen Mitteln und Tricks, ihre kolonialen Pläne über das Jahr 2014 hinaus zumindest teilweise zu verwirklichen.

Damit man die Situation in Afghanistan kritisch und ohne ideologische Scheuklappen, im Lichte der Tatsachen der afghanischen Gegebenheiten, Geschichte,  und die wahren Absichten der kriegsführenden Länder beurteilen kann, darf man folgende 4 Fakte nie aus den Augen verlieren: 

1. der Angriff auf Afghanistan hat nichts mit den Ereignissen vom 11. September 2001 zu tun; er war schon Monate davor geplant;

2. der Krieg, der von USA-Administration und NATO initiiert wurde, dient nur den Interessen der USA und einigen NATO-Ländern und hat einzig die Kolonialisierung Afghanistans zum Ziel;

3. der Krieg richtet sich gegen den Islam im Allgemeinen und gegen die gegen die Besatzer kämpfenden Paschtunen im Besonderem;

4. der Aufstand des afghanischen Volkes gegen die Besatzung führte auch dies Mal zum historischen Sieg; dieses Mal gegen die USA und die NATO.

Welche Szenarien sind nach 2014 möglich?
Der Schlüssel für den Frieden in Afghanistan liegt in den Händen der USA! Solange die US-Administration ihre aggressive, nur auf eigene Interessen basierende Politik nicht grundlegend ändert, wird es nicht nur in Afghanistan keinen Frieden geben. Es geht darum, ob die USA wirklich bereit ist, auf gleicher Augenhöhe, einen ernsthaften und ehrlich gemeinten Friedensdialog mit der Befreiungsbewegung zu starten.

Dass die Taliban trotz alledem zu einem Dialog mit den USA bereit sind, haben sie es von Anfang an bewiesen. Im Dezember 2001 wollten Taliban zur Beendigung des Krieges einen Friedensdialog mit der US-Aministration und der afghanischen Regierung unter Präsident Karzai führen. Beide Seiten hatten sich auf ein Treffen in Kandahar geeinigt. Nach kurzem Gespräch ist die Regierungsdelegation der Nordallianz zusammen mit den US-Amerikanern mit ihren Hubschraubern abgeflogen und gleich danach wurde die Taliban-Delegation bombardiert. Der gleiche Trick zur Torpedierung der Friedensbemühungen der Taliban wiederholte sich in einer abgewandelten Form in 2003.

Die Eröffnung des Büros der Taliban 2013 in Qatar, zum Zwecke eines Friedensdialogs, zeugt von dem Willen und Bestreben der Taliban nach einer politischen Lösung zu suchen; das Schließen dieses Büros auf Druck der Nordallianz zeigt aber noch einmal, dass die Nordallianz Angst vor Frieden hat und die Wahrung ihrer Interessen und Privilegien in der Fortsetzung des Krieges und in der Besatzung sieht.

1. Weiterverbleiben der Besatzungstruppen, mit oder ohne Vertrag
Das Worst Case Scenario für Afghanistan wäre, wenn die Besatzungstruppen weiterhin im Lande blieben. Nach derzeitigem Stand der Informationen lehnt Präsident Karzai die Unterzeichnung des so genannten bilateralen Sicherheitsabkommens, das der weiteren Präsenz der US und NATO Truppen, eine durch die afghanische Regierung legitimierte Grundlage liefern soll, ab. Die Unterzeichnung dieses Vertrages wäre ein Verrat an Afghanistan. Auf der anderen Seite ist auch zu hören, dass die US-Administration auch ohne einen solchen Vertrag ihre Truppen nach 2014 stationieren will. Typisch für das Völkerrechtsverständnis der US-Administration! Präsident Clinton hat bereits im August 1998 Afghanistan mit Cruise Missile angegriffen, gegen alle Normen des Völkerrechts!

Eine weitere Präsenz der US und NATO Truppen bedeutet die Fortsetzung des Krieges und der bereits gescheiterten Politik der Besatzung mit neuen militärischen Strategien. Nach neuer Doktrin der US-Administration soll die USA und NATO ihre Präsenz von derzeit etwa einhunderttausend auf etwa zehntausend Soldaten in Afghanistan reduzieren. An den Zielen und an der Politik der USA wird sich nichts ändern. In Zukunft will die USA aus den sicheren Militärbasen innerhalb Afghanistans operieren. Drohnen- und Raketenangriffe sowie flächenhafte blinde Bombardierungen sind in der neuen Strategie fest einkalkuliert. Die von USA und NATO trainierte und finanziell abhängige ANA wird an die Kriegsfront eingesetzt. Der Krieg wird also genauso wie jetzt weitergeführt, mit Vermeidung eigener Verluste; Afghanisierung der Särge, eben.

Diese neue Strategie ist schon jetzt genau so gescheitert, wie die alte. Die Korruption und der Drogenhandel werden unter der von USA weiterhin an die Macht gehaltene Regierung weitergehen. Auch der Krieg gegen die Besatzung und gegen die Regierung der Nordallianz wird nicht aufhören. Die Befreiungsbewegung wird ihre Militärstrategie der neuen Situation anpassen und den Krieg intensivieren. Es wird ein Jahre langer Zermürbungskrieg geben, an dessen Ende über den Sieg der Befreiungsbewegung kein Zweifel besteht. Deswegen ist dieser Krieg und auch die neue Strategie sinnlos und zum Scheitern verurteilt.

2. Null Lösung
Darunter ist zu verstehen, dass sich die USA und NATO vollständig aus Afghanistan zurückziehen. Dies wird einen kurzen, aber intensiven Bürgerkrieg zur Folge haben. Die Nordallianz wird versuchen, alte oder neue Besatzer zur Sicherung ihrer Machterhaltung zum Eingreifen zu ermuntern; sie wird mit Krallen versuchen, die politischen, gesellschaftlichen, sprachlichen, kulturellen und finanziellen Privilegien, die sie während der Besatzung genossen, zu verteidigen. Sie wird dabei, genau so wie im afghanischen Bürgerkrieg vor 2001, von Russland, Tajikistan Usbekistan und Iran unterstützt. Dieses Mal wird auch Pakistan an der Seite der Nordallianz stehen, da die Paschtunen auf der anderen Seite der Durand-Linie als eine Gefahr für die Integrität Pakistans angesehen werden.

3.Friedlicher Machtübergang
Wenn die USA ernsthafte und ehrlich gemeinte Friedensgespräche mit Taliban beginnen, dann sieht die Zeit nach 2014 viel versprechend aus.

Voraussetzung dafür ist, dass die USA ihre bisherige Politik überdenken und aus dem längsten Krieg der US-Geschichte die einzig richtige Konsequenz ziehen, nämlich sofort und ohne Vorbedingungen Friedensgespräche mit den Taliban zu eröffnen.

Ziel der Friedensgespräche muss sein, einen sofortigen Waffenstillstand zu vereinbaren, alle Gefangene -als Zeichen guten Willens und im Rahmen vertrauensbildender Maßnahmen - freizulassen, jegliches weiteres Blutvergießen zu verhindern, alle fremden Truppen aus Afghanistan abzuziehen und den Machtübergang von der korrupten Marionettenregierung der Nordallianz an eine unabhängige, mit der Befreiungsbewegung ausgehandelte Übergangsverwaltung zu ermöglichen. Diese Lösung würde USA helfen, gesichtswahrend das Abenteuer Afghanistan zu beenden. Die Nordallianz, die in jeder Hinsicht von USA abhängig ist, würde einer solchen Friedenslösung zustimmen, da sie im Rahmen einer Friedenslösung mit einer gewissen Überlebenschance rechnen kann. Und die Befreiungsbewegung hätte ihr Ziel, nämlich den Abzug aller fremden Truppen und die Entmachtung der Nordallianz erreicht. Diese ist die einzige und humane Vorgehensweise für alle Seiten und könnte auch durch einen Friedens- und Freundschaftsvertrag mit USA komplettiert werden.

Zukunft Afghanistans nach der Befreiung
Es besteht kein Zweifel an dem Sieg der Befreiungsbewegung! Die fundamentale Frage, die sich danach stellt ist, ob die Befreiungsbewegung dem Land einen dauerhaften und gerechten Frieden bringt und ob sie die hohen Erwartungen der Bevölkerung in einer angemessen Zeitraum erfüllen kann.

Zum einem dauerhaften und gerechten Frieden wird der Weg sehr steinig sein: Afghanistan wird an vier Fronten kämpfen müssen. Zwei Fronten sind innerhalb des Landes, zwei außerhalb.

1. Kampf gegen Armut und Arbeitslosigkeit und Kampf für gesellschaftliche Gerechtigkeit. Daran wird in den Augen der meisten Afghanen der Erfolg und Misserfolg der siegreichen Befreiungsbewegung gemessen. Dazu gehört auch die während der Besatzung schief gestellte gesellschaftliche Gerechtigkeit wieder zu recht zu rücken.

2. Kampf gegen die Nordallianz..

3. Kampf gegen den Einfluss der Nachbarländer.

4. Kampf gegen die Einmischung der Besatzer; denn sie werden versuchen, mit neuen Tricks und neuen Marionetten ihre alten Ziele zu verfolgen.

Ehrliche Helfer sind immer willkommen
Afghanistan nicht alleine zu lassen, bedeutet AfghanInnen bei diesen schwierigen Aufgaben ehrlich und ohne kolonialistischen Hintergedanken zu helfen, und nicht, sie daran zu hindern.

Wäre die USA mit Afghanistan ehrlich gewesen und nur 10% ihrer Kriegskosten für den Wiederaufbau des Landes ausgegeben, hätten sie heute die Mehrheit der Menschen in Afghanistan als gute Freunde gewonnen. Erinnern wir uns, wie herzlich, mit offen Armen und mit typisch afghanischer Gastfreundschaft in den 70-er Jahren die US-Helfer in Kandahar und Helmand und die deutschen Helfer für die Forstwirtschaft in Paktia und Nangrahar empfangen wurden. Heute kommt der Hauptwiderstand gegen die Besatzer genau aus diesen Gebieten.

Es ist ein fester Bestandteil der islamischen Religion und der afghanischen Geschichte und Kultur, der Paschtunwali, in guter Absicht einreisende Fremde als Gast zu behandeln und für ihre Unversehrtheit, sogar um den Preis des eigenen Lebens, zu sorgen; gleichzeitig werden jedoch fremde Militärs, Missionare und Spione mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft. Das muss endlich der Westen begreifen.

Islam kennt Verzeihung, was in der Paschtunwali als Nanawaty ausgedrückt wird; es ist nie zu spät, die Einstellungen gegenüber Afghanistan zu ändern und eine neue politische Ära, die von Ehrlichkeit und gegenseitigen Respekt geprägt ist, zu beginnen.

Bei dem Beitrag handelt es sich um Auszüge aus einem längeren Artikel, der auf der Website der Friedenskooperative (www.friedenskooperative.de) nachgelesen werden kann.

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Dr. Abdul Kader Wadan lebt in Berlin.