Die Afghanistanpolitik der neuen Bundesregierung

Akzentverschiebungen

von Ute Finckh-KrämerHelmut Hugler

Der ISAF-Einsatz (International Security Assistance Force) geht Ende 2014 zu Ende. Die internationalen Truppen dieser Mission werden bis zum Jahresende abgezogen sein. Mit dem Ende des ISAF-Einsatz wird jedoch das internationale militärische Engagement in Afghanistan nicht beendet sein. Zum einen wird und muss die zivile Unterstützung beim Aufbau der Gesellschaft, der Wirtschaft und des Staates weitergehen, zum anderen wird es voraussichtlich weiterhin eine Militärmission in Afghanistan geben, allerdings mit verändertem Auftrag, eingeschränkten Aufgaben und zahlenmäßig stark reduziert. Dies hat auch eine Verschiebung der Akzente der deutschen Außenpolitik zur Folge.

Auf die Ausgangsbedingungen für die zukünftige deutsche Politik in Afghanistan muss ich nicht ausführlich eingehen, da dies in diesem Heft an anderen Stellen mehrfach und ausführlich geschieht. Ein kurzer Rückblick ist sicher dennoch hilfreich, um die Akzentuierungen der Politik der Großen Koalition zu verdeutlichen.

Die deutsche Afghanistan-Politik reicht weit vor den Militäreinsatz, der seit 2001 stattfand, zurück. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan waren geprägt von wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Zahlreiche Projekte wurden von deutschen Organisationen durchgeführt. Deutsche Akteure hatten daher zunächst einen Sympathie-Bonus in Afghanistan.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde die Bedrohungssituation der Vereinigten Staaten als Artikel 5-Fall (Bündnisfall) in der NATO verstanden: Es ging also zunächst um Unterstützung in einer Bedrohungssituation und nach einem Angriff. Deutschland hat sich an zwei Einsätzen beteiligt: An der „Operation Enduring Freedom“ (OEF), die als Bestandteil des von Bush ausgerufenen „Krieges gegen den Terrorismus“ galt, und an der direkt VN-mandatierten ISAF-Mission, die beim Aufbau und der Stabilisierung des afghanischen Staates helfen sollte. Ziel war einerseits die Bekämpfung des Terrornetzwerkes Al-Kaida (OEF), andererseits zu verhindern, dass Afghanistan wieder zu einem „sicheren Hafen“ für terroristische Organisationen werden könne. In beiden Fällen handelt es sich um eine primär sicherheitspolitische Begründung. ISAF war von Anfang an politisch breiter angelegt und beschränkte sich nicht nur auf die militärische Dimension. Bereits auf der Bonner Petersberg Konferenz (2001) wurde ein außenpolitischer Ansatz verfolgt, der sicherheitspolitische Elemente mit Entwicklungszusammenarbeit, Staatsaufbau, Wirtschaftsförderung und Bildung verknüpfte und von einem umfassenden Verständnis von Außenpolitik getragen wurde.

Seit einigen Jahren wurde auch in der Politik über den zu engen und widersprüchlichen Ansatz in Afghanistan diskutiert. Als Folge davon wurde die Diskussion um die Übernahme der Verantwortung für die Sicherheit durch die afghanischen Kräfte forciert und diese Übergabe eingeleitet.

Inzwischen hat die Bundeswehr in ihrem Bereich die Sicherheitsverantwortung offiziell an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben. Deutschland wird den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte weiter finanziell unterstützen. Die Bundesregierung bewertet die Sicherheitslage in ihrem ehemaligen Verantwortungsbereich, dem Regionalkommando Nord, als kontrollierbar, obwohl die „sicherheitsrelevanten Zwischenfälle“ im Gegensatz zum Landestrend anstiegen (von etwa 1.150 auf etwa 1.650). Im Süden und im Osten, die vor allem ländlich geprägt sind, ist die Sicherheitslage „überwiegend nicht“ kontrollierbar (Fortschrittsbericht).

Gegenwärtig wird in der NATO und mit der afghanischen Regierung über die ISAF-Nachfolgemission „Resolute Support“ beraten, an der sich auch Deutschland mit etwa 600 bis 800 Soldaten beteiligen will. Die Aufgabe der Mission wird sein, die Sicherheitskräfte auszubilden, zu beraten und zu unterstützen und sich dabei insbesondere an afghanische Entscheidungsträger zu wenden. Die Bundeswehr soll sich wie in der Vergangenheit als „Rahmennation“ auf den Norden konzentrieren. Die SoldatInnen der Mission wären zur Selbstverteidigung berechtigt, aber nicht für Kampfeinsätze vorgesehen.

Ob die Nachfolgemission stattfinden wird, steht im Moment noch in den Sternen. Voraussetzung dafür ist, dass Präsident Hamid Karzai das Truppenstationierungsabkommen mit den Vereinigten Staaten unterzeichnet, das als Modell für die anderen Stationierungsstaaten dienen soll. Obwohl die Loya Jirga zugestimmt hat, weigert sich Karzai, den Vertrag zu unterzeichnen. Seiner Ansicht nach soll der neue Präsident nach den Wahlen den Vertrag unterzeichnen.

Damit ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht klar, ob NATO-Truppen nach 2014 weiter in Afghanistan stationiert sein werden. Die NATO plant daher inzwischen für alle Fälle so, dass sie die Mission durchführen kann, dass sie aber auch vollständig abziehen kann, wenn die rechtlichen Voraussetzungen dafür fehlen. Die Bundesregierung hat bereits 2013 eine konditionierte Zusage gegeben. Erstens muss der Bundestag jährlich dem Einsatz zustimmen, zweitens muss ein VN-Mandat vorliegen, drittens muss ein Truppenstationierungsabkommen zwischen der Bundesrepublik und der afghanischen Regierung abgeschlossen werden.

Nach bisherigen Planungen will die Bundesregierung ab 2015 für den Aufbau der Sicherheitskräfte (Armee und Polizei) insgesamt 150 Mio. € ausgeben, davon ca. 80 Mio. für die Armee und 70 Mio. für die Polizei. Darüber hinaus unterstützt die Bundesregierung auch das europäische Polizeiausbildungsprojekt (European Union Police Mission), das nach bisherigem Stand bis Ende 2016 verlängert werden soll.

Die neue Bundesregierung betont, dass sie das zivile Engagement in Afghanistan weiterführen, sogar intensivieren will. Für die Zukunft heißt das, die Wirtschaft zu stärken und den Tokio-Prozess zu unterstützen, der mit der Geber-Konferenz in Tokio im Juli 2012 begann. In einem Abkommen (Tokyo Mutual Accountability Framework – TMAF) wurden gegenseitige Verpflichtungen zwischen den Geberstaaten und der afghanischen Regierung vereinbart. Bislang entwickelt sich der Prozess allerdings unbefriedigend. Die Bundesregierung will den Tokio-Prozess weiter unterstützen. Insbesondere bei der Korruptionsbekämpfung und im Bereich der Menschenrechte gibt es jedoch keine Fortschritte. Vor den Wahlen im April 2014 soll es nach dem Willen der internationalen Geber deswegen ein weiteres Treffen geben, auf dem die Umsetzung der Konditionen und der Vorhaben bis zu diesem Zeitpunkt überprüft werden soll. Bis „mindestens“ 2016 will die Bundesregierung laut Fortschrittsbericht „bis zu 430 Millionen € im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan ausgeben“.

Ziviler Aufbau
Menschenrechte, insbesondere Frauen- und Mädchenrechte, aber auch die Pressefreiheit sind in Afghanistan noch nicht gesichert. Immer wieder kommt es zu Drohungen von Seiten staatlicher und parlamentarischer Funktionsträger gegen kritische Medien. Darüber hinaus wird die Presse streng reguliert. Die Bundesregierung sieht in diesen Politikbereichen zentrale Aufgaben und stellt dafür Mittel zur Verfügung.

Der innerafghanische Versöhnungs- und Friedensprozess kann zu Recht nach Ansicht der Bundesregierung nur von den verschiedenen Gruppen in Afghanistan selbst betrieben werden. Versuche, mit den Taliban und anderen Aufständischen ins Gespräch zu kommen, sind bisher gescheitert. Laut zum Zeitpunkt der Drucklegung noch unbestätigten Presseberichten soll Präsident Hamid Karzai erneut Gespräche mit den Taliban aufgenommen haben. Weitere Versuche lohnen sich, auch wenn die daran beteiligten Akteure kein den westlichen Vorstellungen entsprechendes Gesellschafts- und Friedensmodell verfolgen. Die Bundesregierung will mit ihrer zivilen Politik in Afghanistan diejenigen Kräfte stützen, die demokratische und menschenrechtsorientierte Prozesse vorantreiben. Sie unterstützt auch den regionalen Dialogprozess, in dem Pakistan eine besondere Rolle zukommt. Im Rahmen der Europäischen Union fördert die Bundesregierung den „Istanbul-Prozess“, an dem neben Afghanistan und seinen Nachbarländern wie Iran, Pakistan. Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan auch Indien, China, Russland, die Türkei und Staaten der arabischen Halbinsel beteiligt sind.

Debatte über Bundeswehreinsätze erforderlich
Von entscheidender Bedeutung für die zukünftige deutsche Außenpolitik ist, dass eine grundsätzliche Debatte über die Auslandseinsätze der Bundeswehr und ihr Verhältnis zur deutschen Außenpolitik geführt wird. Die Debatte hat die Expertenzirkel verlassen. So hat die Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD hat unter der Leitung des ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht Hans-Jürgen Papier aktuell eine Stellungnahme zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr verfasst. Sie stellt als Ergebnis ihrer Diskussionen fest: „Im Blick auf den Afghanistan-Einsatz stellt sich allerdings die ernste Frage, ob nicht die militärischen Mittel eine Eigendynamik entwickelt haben, die dazu führte, dass das Leitbild des „gerechten Friedens“ (wie es von der EKD entwickelt wurde) aus dem Zentrum des Handelns herausgerückt ist.“

Zu hoffen ist, dass der Afghanistan-Einsatz einem Evaluierungsprozess unterzogen wird und daraus Schlüsse gezogen werden, die sowohl bei der zukünftigen Afghanistan-Politik wie bei der Frage nach künftigen Bundeswehreinsätzen berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere deswegen, weil die Debatte in der publizistischen Öffentlichkeit wieder auf die Frage des Militäreinsatzes reduziert wird und alternative Handlungsstränge zu wenig beachtet werden.

Leseempfehlungen:
„Selig sind die Friedfertigen“ Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik. Eine Stellungnahmen der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD (EKD-Texte 116), Hannover, Januar 2014 (http://www.ekd.de/EKD-Texte/ekdtext_116.html)

Bundesregierung: Fortschrittsbericht Afghanistan zur Unterrichtung des Deutschen Bundestages, Januar, 2014 (Fortschrittsbericht) (http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/RegionaleSchwerpunkte/Af...)

Afghan Analyst Network: http://www.afghanistan-analysts.org/

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Helmut Hugler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Büro der Bundestagsabgeordneten Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD).