Europäische Rüstungsexportoffensive

von Sabine Lösing

Glaubt man den Äußerungen von Politik und Rüstungslobby, so entsteht der vollkommen falsche Eindruck, die gesamte Branche stehe aufgrund angeblich drastischer Kürzungen der EU-Verteidigungshaushalte infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise europaweit kurz vor dem Kollaps. Die ganze Geschichte hat jedoch einen eklatanten Schönheitsfehler – sie hat mit der Realität nichts zu tun. Die europaweiten Militärausgaben befinden sich ebenso wenig im freien Fall wie die Profite der Rüstungsindustrie. Dennoch wird von Politik und Industrie so getan, als müsse alles unternommen werden, um die vor sich hindarbende Rüstungsbranche vor dem Untergang zu bewahren.

Eine der in diesem Zusammenhang propagierten „Lösungen“ lautet: Wenn die Inlandsnachfrage zurückgeht, muss eben der Export angekurbelt werden. So äußerte sich Heinz Marzi, bis Ende 2010 Geschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV): „Mit einem zurückgehenden nationalen Budget werden für die deutsche wehrtechnische Industrie die Exporte ihrer Produkte zunehmend immer wichtiger und notwendiger.“ Allerdings gibt es bei diesem Plan laut Marzi einen Haken, nämlich die „im europäischen Vergleich [in Deutschland] immer noch restriktiven Rüstungsexportbestimmungen“. Aus diesem Grund solle sich die Politik dafür einsetzen, dass diese „auf europäischer Ebene harmonisiert werden“.(1)

Genau diesem Zweck dient die in Kürze in Kraft tretende EU-Verbringungsrichtlinie. Mit ihr sollen die nationalstaatlichen Standards für Rüstungsexporte auf den kleinsten gemeinsamen Nenner abgesenkt – „harmonisiert“ - werden. Obwohl die Länder der Europäischen Union schon heute die weltweit größten Waffenlieferanten sind, dürften die Exporte damit noch weiter zunehmen. Dies gilt besonders, da der „Verhaltenskodex für Waffenexporte“ löchrig wie ein Schweizer Käse ist.

„Rüstungsexporte sind überlebenswichtig!“
Laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI gaben die EU-Mitgliedsstaaten im Jahr 2010 inflationsbereinigt etwa 12% mehr für Rüstungsgüter aus als im Jahr 2001. Gegenüber den Vorjahren sind die Ausgaben 2010 nur unwesentlich gesunken: 288 Mrd. Dollar!(2) Auch der Rüstungsindustrie – bzw. ihren Profiten aus dem Geschäft mit dem Tod – geht es leider prächtig, wie eine Untersuchung des Center for Strategic and International Studies zu Tage förderte: „Die europäischen Sicherheits- und Verteidigungsfirmen haben sich in den letzten Jahren sehr gut gehalten, sowohl was die absoluten Zahlen anbelangt, als auch gegenüber ihresgleichen im kommerziellen Sektor.“(3) Zwar seien die Gewinne in den 1990er Jahren eingebrochen, in den letzten zehn Jahren sei das Geschäft mit Kriegsgütern jedoch äußerst profitabel gewesen. Die Gewinne der Branche wären von 63 Mrd. Euro im Jahr 2003 um 49% auf 93 Mrd. Euro 2009 gestiegen. Das Fazit der Studie ist demzufolge eindeutig: „Die europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunternehmen sind auf dem globalen Markt konkurrenzfähig.“(4)

Wenn der aktuelle BDSV-Präsident Christian-Peter Prinz zu Waldeck die Erhöhung der Rüstungsexporte zu einer „Frage des Überlebens“ hochstilisiert (5), geht es ihm primär also nicht darum, die Branche vor dem Ruin zu bewahren, sondern darum, ihre ohnehin üppigen Profite weiter zu vergrößern.

Geplant ist ein Ausbau der Exporte auf hohem Niveau. Denn laut SIPRI können die Länder der Europäischen Union für das Jahr 2010 bereits jetzt schon zum wiederholten Male für sich den zweifelhaften „Erfolg“ beanspruchen, mit einem Anteil von 34% den Titel des Rüstungsexportweltmeisters errungen zu haben. Erst danach folgen die USA mit 30% und Russland mit 23%.(6)

Verbringungsrichtlinie als Rüstungsexportoffensive
Der große „Rüstungsexportwurf“ gelang der Europäischen Union mit der Verabschiedung der „Richtlinie zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern“ (kurz: Verbringungsrichtlinie) im Mai 2009. Sie soll spätestens im Juli 2012 europaweit in Kraft treten und hat offiziell zum Ziel, das Genehmigungssystem für innereuropäische Exporte zu vereinfachen. Hiervon verspricht man sich Einsparungen von jährlich etwa 400 Mio. Euro, v.a. sollen damit aber existierende Ausfuhrbeschränkungen aufgeweicht werden.

Vereinfacht formuliert wird mit der Verbringungsrichtlinie das Zertifizierungssystem für innereuropäische Waffentransfers von Vorabkontrollen auf Nachkontrollen umgestellt, die noch nicht einmal bindend erfolgen müssen. Salopp gesagt werden damit Persilscheine ausgestellt, innerhalb der Europäischen Union Rüstungsgüter nahezu beliebig verbringen zu können. Dies ist besonders deshalb problematisch, da die Regelungen, was den möglichen Re-Export anbelangt, vollkommen ungenügend sind. Strenge nationale Exportbeschränkungen könnten sich somit relativ einfach durch einen Vorabexport in ein „großzügigeres“ EU-Land aushebeln lassen: „Besonders wenn sie re-exportiert werden, können Intra-EU-Verbringungen zum Streitpunkt werden (z.B. Export Belgien – Frankreich – Tschad). Die Angst, dass solche Transfers nahezu unmöglich nachgewiesen werden können, ist wohlbegründet.“(7)

Diese Sorge ist umso begründeter, da die Verbringungsrichtlinie bezüglich der Bewertung, ob ein Weiterexport von Rüstungsgütern möglicherweise gegen die Bestimmungen des Ursprungslandes verstoßen würde, den Bock zum Gärtner macht: „Das Verfahren der Richtlinie rückt die Unternehmen, die ein endgefertigtes Produkt aus dem Gebiet der EU exportieren wollen, selbst in die Berichtspflicht über mögliche Vorbehalte gegenüber einem Empfängerland. Das aber setzt Loyalität und Wohlverhalten der am Rüstungsgeschäft beteiligten Unternehmen voraus.“(8)

Damit droht, dass sich die Rüstungsexportbeschränkungen europaweit auf den kleinsten gemeinsamen Nenner annähern, wie viele Kritiker warnen. Dies ist umso problematischer, weil das existierende Rüstungsexportkontrollsystem auf EU-Ebene mehr als unzureichend ist und es wohl auf absehbare Zeit auch bleiben wird.

Zahnloser Verhaltenskodex
In den frühen 1990ern billigte der Europäische Rat acht Kriterien, die zur Erteilung einer Rüstungsexportlizenz erfüllt sein sollten. Diese Kriterien wurden schließlich 1998 in den „Verhaltenskodex für Rüstungsexporte“ aufgenommen. Dazu gehört der Verweis, Waffen weder in Krisengebiete (Kriterium 3) noch in Staaten zu exportieren, in denen die Menschenrechte verletzt werden (Kriterium 4). Die Sache hatte nur einen Haken: Bei dem Kodex handelte es sich eher um Richtlinien als um Regeln, er war nicht bindend. Insofern verwundert es auch nicht, dass auch nach Verabschiedung des Verhaltenskodex munter weiter Waffen in Konfliktregionen exportiert wurden. So zeigte eine im November 2011 veröffentlichte Untersuchung, dass europäische Länder im Zeitraum zwischen 2001 und 2009 allein in die Krisenregion Nordafrika und Mittelost Rüstungsgüter im Wert von über 50 Mrd. Euro exportiert haben.(9)

Im Dezember 2008 verabschiedete der Europäische Rat zwar schließlich eine Gemeinsame Position zum Verhaltenskodex, mit der die Kriterien rechtlich bindend wurden. Allzu viel änderte dies an der bisherigen Exportpraxis aber leider nicht: „Der Verhaltenskodex hat seine Grenzen. Zuallererst deckt er lediglich einen begrenzten Teil von Rüstungsexportkontrollen ab: z.B. die acht Kriterien und Bestimmungen zum Austausch von Informationen und zur Transparenz. Andere Aspekte werden den Mitgliedsstaaten zur Entscheidung überlassen, einschließlich der Strukturen der nationalen Behörden, die Ausfuhrlizenzen erteilen sowie die von ihnen implementierten Prozeduren. Zweitens beruht der Kodex stark auf der Implementierung und Interpretation jedes Mitgliedslandes: Die Entscheidung, eine Exportlizenz zu gewähren, verbleibt in nationaler Zuständigkeit.“(10)

So sind viele EU-Staaten der Auffassung, Waffenexporte in Länder wie Saudi Arabien, Israel oder den Tschad seien problemlos mit den acht Kriterien vereinbar. Somit ist der Verhaltenskodex vollkommen ungeeignet, die sich anbahnende Rüstungsexportoffensive in die Schranken zu weisen – im Gegenteil: „Alle bis auf die fragwürdigsten Waffenexporte (und manchmal sogar die) erhalten eine Fassade formaler Legitimität.“(11)

Spiel über die Brüsseler Bande
Gerade für die deutsche Rüstungsindustrie ist das Spiel über die Brüsseler Bande wie so häufig überaus attraktiv. Die Verbringungsrichtlinie ermöglicht es, die deutschen Rüstungsexportbestimmungen zu umgehen, was über eine offizielle Aufweichung der Ausfuhrbestimmungen angesichts der Stimmung in der Bevölkerung wohl nur schwer möglich wäre. So ergab eine repräsentative Umfrage unter der deutschen Bevölkerung im Oktober 2011, dass überwältigende 78% generell gegen jegliche Rüstungsexporte sind, weitere 11% wollen sie für Ausfuhren in Krisengebiete verbieten und gerade einmal 7% sprechen sich generell für solche Exporte aus.(12)

Anmerkungen
1) Marzi, Heinz: Die Bedeutung des Rüstungsexports für Deutschland, Geopower.com, 11.09.2010.

2) PRI Yearbook 2011, S. 195.

3) Berteau, David u.a.: A Healthy, Diversified, Defense industry Despite Declining European Demand, in: Flanagan, Stephen u.a. (Hg.): Diminishing Transatlantic Partnership? CSIS, 03.05.2011, S. 29-37, S. 36.

4) Ebd., S. 35.

5) Eine Frage des Überlebens, German-Foreign-Policy.com, 27.10.2011.

6) SIPRI Yearbook 2011, S. 273.

7) Depauw, Sara: Risks of the ICT-directive in terms of transparency and export control, in: Flamish Peace Institute (Hg.): Export controls and the European defence market: Can effectiveness be combined with responsibility? Brüssel 2011, S. 67-74, S. 71.

8) Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE): Rüstungsexportbericht 2009, Bonn/Berlin 2009, S. 70.

9) Vranckx, An u.a.,Lessons from MENA - Appraising EU transfer of military and security equipment to the Middle East and North Africa', Gent, November 2011, S. 17.

10) Poitevin, Cédric: A European export control regime: balancing effectiveness and responsibility, Flemish Peace Institute 2011, S. 47-51, S. 50.

11) Bromley 2011, S. 44.

12) Aken, Jan van: Umfrage Rüstungsexporte, 20.10.2011, URL: http://www.jan-van-aken.de/aktuell/umfrage-ruestungsexporte.html (22.11.2011).

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Sabine Lösing ist außen- und sicherheitspolitische Sprecherin der LINKEN im Europaparlament und Vorsitzende DIE LINKE Niedersachsen.