Dein Jahr für Deutschland – Auf dem Weg zu einer neuen Wehrpflicht?

Freiwilligendienste bei der Bundeswehr

von Michael Schulze von Glaßer
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Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat im Juli 2020 einen neuen freiwilligen Dienst an der Waffe vorgestellt. Die Militarisierung verschärft sich – gegen die Zivilgesellschaft.
Die Freude im Verteidigungsministerium dürfte nur kurz währen: Erstmals seit 2013 hatte die Bundeswehr im Juli 2020 wieder über 185.000 Soldatinnen und Soldaten. Ein Jahr zuvor waren es noch 183.000 – die Zahl des bewaffneten Bundeswehr-Personals steigt also. Allerdings ist sie auch noch weit weg vom selbstgesetzten Ziel entfernt: 2025 möchte die Bundeswehr über 203.000 aktive Soldat*innen verfügen – das wird man mit dem aktuellen Personalzuwachs nicht schaffen. Etwa 22.000 Stellen in der deutschen Armee sind aktuell unbesetzt.

Dabei ist die Armee auf neues Personal angewiesen, um den von der Bundesregierung vorgegeben Plan zu erfüllen: Denn die massive Aufrüstung der letzten Jahre – die Steigerung des Militärhaushalts von 33 Milliarden Euro im Jahr 2015 auf 45,6 Milliarden Euro 2020 – geht mit der Aufstellung neuer Einheiten einher, die natürlich Personal benötigen. 2017 hat die Bundeswehr in Bonn ein neues Kommando für den „Cyber- und Informationsraum“ gegründet. 2019 wurde im baden-württembergischen Hardheim ein neues Panzerbataillon gegründet. Auch die neuen Drohnen der Bundeswehr müssen gesteuert und gewartet werden. Die Aufrüstung geht daher auch mit der so genannten „Trendwende Personal“ einher, die aus vielen Maßnahmen besteht, um junge Menschen für die Armee zu gewinnen. Das Verteidigungsministerium ist dabei kreativ.

Dein Jahr für Deutschland?
Im November 2015 startete die Armee – vier Jahre nach Aussetzung der Wehrpflicht – ihre erste große Werbekampagne. Unter dem Motto „Mach, was wirklich zählt“ wird sie bis heute mit verschiedenen Schwerpunkten fortgeführt. Dabei reagiert die Bundeswehr bzw. die von ihr angestellte Werbeagentur „Castenow“ aus Düsseldorf auf aktuelle Entwicklungen: Zu den Olympischen Spielen im Sommer 2016 in Rio de Janeiro wurde mit den Sportsoldatinnen und -soldaten geworben und im April 2020 startete die Armee unter dem Motto „Einsatz gegen Corona“ mit dem Hashtag „#FürEuchGemeinsamStark“ eine Werbekampagne rund um die grassierende Pandemie. In über einem Dutzend Videos zeigte die Bundeswehr, was sie gegen die Pandemie macht: Vor allem logistische Unterstützung.

Wenige Monate nach Start dieser Image-Kampagne wurde es konkret: Am 23. Juli stellte Annegret Kramp-Karrenbauer passend zur Corona-Pandemie einen neuen Freiwilligendienst vor. Unter dem Titel „Dein Jahr für Deutschland“ können bald jährlich 1.000 junge Menschen eine siebenmonatige Grund- und Spezialisierungsausbildung bei der Bundeswehr machen und werden danach „heimatnah“ in regionalen Reserveeinheiten eingesetzt. Über sechs Jahre sollen die jungen Menschen dann für insgesamt fünf Monate an Reserveübungen teilnehmen. Derzeit sind 30 regionale Sicherungs- und Unterstützungskompanien flächendeckend im Bundesgebiet aufgestellt. An der Waffe ausgebildet werden – wie immer beim Freiwilligen Wehrdienst – schon junge Menschen ab 17 Jahren. Grundvoraussetzung ist immer auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Der Dienst wird – das sei hier nur am Rande angemerkt – mit seiner Ausrichtung und Bewerbung wohl vor allem Menschen aus dem politisch rechten Spektrum ansprechen: In einem Werbevideo heißt es: „Unser Wir braucht mehr von Dir. Schütze unsere Heimat. Wenn wir dich stark machen, machst du ein ganzes Land stark. Schütze unsere Heimat. Erlebe Kameradschaft. Mit dem neuen Dienst in deiner Region. Zusammenhalt in Deutschland beginnt bei dir.“ Doch warum der neue Dienst? Immerhin benötigt die Bundeswehr für ihre im Rahmen der Aufrüstung neu aufgestellten Einheiten langfristig angestelltes Personal. Zum einen wird im Verteidigungsministerium die Hoffnung bestehen, dass sie die Rekrutinnen und Rekruten des neuen Freiwilligendienstes doch noch dazu bewegen kann, länger Dienst zu tun. Zum anderen ist es auch ein Plan der Bundesregierung, die Armee verstärkt im Inland einzusetzen. Denn das „Jahr für Deutschland“ ist eigentlich ein Dienst, der gar nicht ins Aufgabenspektrum der Bundeswehr gehört: Es wird gezielt mit dem Einsatz im Inland geworben – mit „Heimatschutz“. Dass dies juristisch heikel ist – der Einsatz der Streitkräfte im Inland ist als Lehre aus dem Nationalsozialismus nur als absolute Ausnahme erlaubt –, ignoriert die Bundesregierung. Im Rahmen der Corona-Krise drohte zwischenzeitlich sogar erstmals ein Einsatz bewaffneter Truppen im Inland: Soldatinnen und Soldaten des „Jägerbataillon 292“ sollten sensible Einrichtungen wie Liegenschaften des THW schützen. Realisiert wurde der Vorstoß, der aus dem CDU-geführten baden-württembergischen Innenministerium und aus der CSU in Bayern kam, nicht. Er zeigt aber den aktuellen Kurs der Militarisierung – es wird aufgerüstet, im Ausland interveniert und der Einsatz im Inland vorbereitet.

Reaktivierung der Wehrpflicht?
Dazu passen auch Debatten um die Reaktivierung der Wehrpflicht: Sollte sich das Nachwuchsproblem der Bundeswehr weiter verschärfen, könnte auch in Deutschland wieder Zwang auf junge Bürgerinnen und Bürger ausgeübt werden. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte bereits im Sommer 2018 einen Vorstoß für eine Reaktivierung der Wehrpflicht gewagt – was in der Öffentlichkeit auf heftige Kritik stieß: Eine neue Wehrpflicht wäre nicht nur moralisch fragwürdig, sondern auch schädlich für die Wirtschaft (der junge Menschen vorenthalten werden) und bedürfte sogar einer Grundgesetzänderung, um eine „Wehrgerechtigkeit“ herzustellen. Dennoch hören die Rufe nicht auf: Die seit Mai 2020 amtierende neue Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl (SPD), plädierte kurz nach ihrer Wahl für eine Reaktivierung der Wehrpflicht – es tue der Bundeswehr sehr gut, „wenn ein großer Teil der Gesellschaft eine Zeit lang seinen Dienst leistet“, so Högl. Viele ihrer Parteikolleg*innen wiesen den Vorstoß zurück. Im Parlament gibt es aktuell keine Mehrheit für eine Reaktivierung des Zwangsdiensts. Dennoch steigt der Druck – nicht nur aufgrund der Gesamtstrategie der Bundesregierung, sondern auch international.

Auch andere europäische Armeen habe Nachwuchsprobleme – und handeln. Seit 2013 gibt es den Trend, der Armee junge Menschen durch Zwang zuzuführen: Ein Referendum in Österreich bestätigte damals die dortige Dienstpflicht, in Norwegen dehnte man die Zwangsrekrutierung auf Frauen aus. Ab 2014 reaktivierten die Ukraine, Litauen und Georgien die Kriegsdienstpflicht, 2018 folgte Schweden. In Frankreich startete 2019 der „Service national universel“ – ab 2021 müssen junge Menschen zunächst einen Monat lang in einer zivilen oder militärischen Einrichtung Dienst leisten. Solch ein „Zwangspraktikum“ ist auch für Deutschland vorstellbar: Denn auch wenn es eigentlich darum geht, der Armee neuen Nachwuchs zuzuführen, stellen Befürworter*innen einer neuen Wehrpflicht in der Debatte zumeist eine „allgemeine Dienstpflicht“ in den Vordergrund – ein Dienst in zivilen, sozialen Einrichtungen wird vorgeschoben, um der Bundeswehr Nachwuchs zuzuführen.

Fazit
Die Bundesregierung lässt aufrüsten, weshalb die Bundeswehr neuen Nachwuchs braucht. Zwar erscheint eine Reaktivierung der Wehrpflicht aktuell unrealistisch, die Regierung unternimmt aber immer wieder Vorstöße, um der Armee neuen Nachwuchs zuzuführen: Zuletzt wurde mit dem „Jahr für Deutschland“ ein neuer Freiwilligendienst ins Leben gerufen, mit dem sich die Bundeswehr vor allem für – juristisch umstrittene – Inlandseinsätze verstärken will. Der gut bezahlte Dienst an der Waffe steht dabei in Konkurrenz zu zivilen Diensten: Sozialverbände wie die Caritas, der Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und die Arbeiterwohlfahrt übten daher scharfe Kritik. Der neue Dienst sei für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht nützlich, so die Verbände. Die Bundesregierung interessiert das nicht. Sie treibt die Militarisierung voran – gegen alle Widerstände, gegen die Zivilgesellschaft.

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