Ökumenische FriedensDekade 2015

„Grenzerfahrung“

von Jan GildemeisterThomas Oelerich

Vom 8. -18. November werden im Rahmen der bundesweiten Ökumenischen FriedensDekade mehrere tausend Veranstaltungen zum Thema „Frieden“ durchgeführt. Sei es in Form von Gottesdiensten, Friedensgebeten, Andachten, Informations- oder Kulturveranstaltungen, Filmabenden oder Straßenständen: Die über 30-jährige Tradition, die zehn Tage (Dekade) vor dem Buß- und Bettag unter das Friedensthema zu stellen, hält ungebrochen an. Die besonders hohe Nachfrage nach den diesjährigen Aktions- und Bildungsangeboten macht deutlich, dass die OrganisatorInnen mit der Auswahl des Mottos nicht viel aktueller hätten sein können.

Als das Thema GRENZERFAHRUNG bereits im vergangenen Dezember als Motto für die diesjährige FriedensDekade ausgewählt wurde, war noch nicht absehbar, welche Ausmaße die Problematik um Flucht und Migration in Europa annehmen würde. Fast 60 Millionen Menschen weltweit registrierte das UN-Flüchtlingshilfswerk 2015. Nur sehr wenige von ihnen finden den Weg nach Deutschland. Zumeist machen diese Menschen vor allen Dingen eins: eine GRENZERFAHRUNG. Flüchtlinge haben Schreckliches erlebt und konnten zumeist von ihrem Hab und Gut nichts oder nur weniges retten. Oftmals fühlen sie sich abgewiesen, ausgegrenzt. Sie sind auf Hilfe angewiesen. Häufig können sie nicht (so bald) in ihre Heimat zurückkehren.

Für aufnehmende Länder sind große Flüchtlingszahlen und größere Migrationsströme eine Herausforderung. Länder wie der Libanon, wo bei einer Bevölkerungsgröße von 4,5 Millionen EinwohnerInnen fast 2 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen wurden, werden dadurch politisch und sozial (weiter) destabilisiert und von ihrer Infrastruktur her an ihre Grenze gebracht. Aber selbst für reiche europäische Länder ist die (befristete) Aufnahme von Menschen aus anderen kulturellen und religiösen Kontexten eine Herausforderung, wie wir es aktuell erleben. Die Ökumenische FriedensDekade will mit den Materialangeboten auf die Chancen aufmerksam machen, die sich daraus ergeben können, Bestehendes und „Fremdes“ zu etwas gemeinsamen Neuen wachsen zu lassen. Darum wird auch nicht die Frage gestellt, ob der Islam zu Deutschland gehört, sondern welche Bedeutung ihm gesellschaftlich und politisch beigemessen werden muss.

Gesellschaftlich bedeuten Flucht und Migration eine Grenzerfahrung: Zuwandernde bringen eine andere, eine fremde Kultur mit. Sie eignen sich als Feindbild – auch um von anderen Problemen und deren Ursachen abzulenken. Und zugleich haben beispielsweise die Gewalt gegen Muslime und Juden sowie der islamistische Terror in Frankreich zuletzt gezeigt, dass sie ein Konfliktpotential darstellen – angesichts einer immer weiter zunehmenden Globalisierung. Aber das Setzen auf rein polizeistaatliche Mittel ist ungeeignet, dieses Konfliktpotential aufzufangen – bestenfalls können sie es begrenzen. Entscheidend ist vielmehr, dass die Gesellschaft – und dazu gehören auch die Religionsgemeinschaften – sich offensiv mit dem Thema auseinandersetzen und in besonderer Weise die Chancen betonen, ohne die Herausforderung zu banalisieren. Verständnis, Toleranz und Akzeptanz für die Verschiedenheit von kulturellen oder religiösen Gepflogenheiten sind auf beiden Seiten notwendig, aber es gibt auch Grenzen und Regeln, die akzeptiert werden müssen. So muss Gewalt – ob kulturell (z.B. “Fehdemorde“) oder fremdenfeindlich bedingt – konsequent geahndet werden.

Die Ökumenische FriedensDekade will aber auch den Blick öffnen dafür, den Fluchtursachen nachhaltig zu begegnen. Wer sich mit den Ursachen von Flucht beschäftigt, stößt unweigerlich auf die Frage, was wir in Deutschland damit zu tun haben. Die Antwort ist: erschreckend viel. Kleinwaffen aus Deutschland sind ein Exportschlager. Sie sind sehr geeignet zum Einsatz gegen die eigene Bevölkerung in (Bürger-) Kriegen. Lebensmittelexporte aus der EU zerstören die subsidiäre Landwirtschaft in vielen Ländern und nehmen vielen Menschen die materielle Grundlage, um überleben zu können. Ungerechte Weltwirtschafts- und Handelsstrukturen halten Länder arm und berauben gerade jungen Menschen ihrer wirtschaftlichen Perspektive. Die Aufrechterhaltung unseres hohen Lebensstandards führt u.a. zur Ausbeutung von Rohstoffen und zur Umweltzerstörung. Es ist absehbar, dass die Zahl der sogenannten Klimaflüchtlinge in den nächsten Jahrzehnten rapide steigen wird. Notwendig sind daher radikale politische wie gesellschaftliche Veränderungen, soll die Zahl der Flüchtlinge begrenzt werden. Und jede/r von uns ist persönlich gefragt, welche Veränderungen auch individuell vorgenommen werden können, um anderen Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Die Frage nach den Fluchtursachen zu stellen und nach den Möglichkeiten zu fragen, im individuellen Lebensstil gemeinsam mit anderen sozial vertretbare Alternativen zu entwickeln, dazu wollen die diesjährigen Bildungs- und Arbeitsmaterialien der Ökumenischen FriedensDekade anregen. 

Die Materialien zeigen aber auch auf, wo sich Kirchen oder kirchlich Aktive bereits auf verschiedenen Ebenen engagieren: Sie protestieren gegen staatliche Willkür gegenüber Flüchtlingen und für ein liberales Asylrecht. Immer mehr Kirchengemeinden gewähren Flüchtlingen ein Kirchenasyl, um sie vor einer Abschiebung in ein (Heimat-) Land zu bewahren, in dem ihnen Gewalt und Verfolgung drohen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft gegen Rechtsextremismus tritt gegen Fremdenfeindlichkeit ein – ob unter ChristInnen, in der Gesellschaft oder in staatlichen Organen. Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen sorgen sich um Flüchtlinge und setzen sich generell für die Würde der Schwachen ein. Der interreligiöse Dialog bis hin zu einer gemeinsamen Friedensarbeit wird gefördert. Und auch die Ursachen für Flucht werden in den Blick genommen: Ob im Einsatz gegen ungerechte Weltwirtschaftsstrukturen oder durch die Förderung von konkreten kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich vor Ort für mehr Frieden und Gerechtigkeit einsetzen. Dabei sind auch verschiedene Mitglieds- bzw. Trägerorganisationen der Ökumenischen FriedensDekade (wie pax christi Deutschland, Pro Asyl, Internationaler Versöhnungsbund/Dt. Zweig oder die EKD mit verschiedenen Landeskirchen) auf den unterschiedlichen Ebenen engagiert. Von der Bekämpfung von Fluchtursachen wie Rüstungsexporten über den Einsatz gegen Rassismus bis hin zur Förderung von interreligiösen Dialogen und interkultureller Verständigung.

Die Ursachen für Flucht müssen bekämpft werden. Eine Abschottung mit Gewalt – beispielsweise der EU-Außengrenzen – ist menschenverachtend. Entscheidend wird daher sein, wie Staat und Gesellschaft auf Flucht und Migration langfristig reagieren. Die Ökumenische FriedensDekade will einen Beitrag dazu leisten, dass die aktuellen Herausforderungen bewältigt werden und die Chancen zu einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands genutzt werden. Zum Wohle aller, für mehr Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung – weltweit.

Weitere Informationen zur Ökumenischen FriedensDekade, zum Jahresmotto sowie zu den Bestellmöglichkeiten des neuen Aktions- und Arbeitsmaterialien finden sich auf der neuen Internetseite der Ökumenischen FriedensDekade unter www.friedensdekade.de.

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Jan Gildemeister ist Geschäftsführer der AGDF.