Sind Soziale Verteidigung und gewaltfreier Widerstand im Völkerrecht erlaubt?

Soziale Verteidigung und Völkerrecht

von Norman Paech
Schwerpunkt
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Unter dem Begriff der Sozialen Verteidigung werden sehr vielfältige Formen des zivilen Ungehorsams verstanden, die jedoch alle zweierlei gemeinsam haben: Sie richten sich gegen Zustände, Entwicklungen und Situationen innerhalb eines Staates und sind alle gewaltfrei. Es sind alles Formen des Protestes, ob Verweigerung, Boykott oder Blockade, die bis zu den aktuellen Protestformen von Organisationen wie „Fridays for Future“, „Ende Gelände“ und „Letzte Generation“ mit Sachbeschädigung und Störung des Verkehrs reichen. Sie haben sich nur mit der innerstaatlichen Rechtsordnung, insbesondere dem Strafrecht, auseinanderzusetzten.
Wird nach dem Völkerrecht gefragt, so sind damit nur die Beziehungen zwischen den Staaten gemeint, die vom Völkerrecht geregelt werden. Der zivile Widerstand muss sich also gegen einen fremden Staat richten. Das war in der Vergangenheit in allen unter kolonialer Herrschaft stehenden Ländern ein Problem, in der Gegenwart in Fällen der Besatzung wie etwa in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. Aktuell sind es vor allem die israelische Besatzung in Palästina und Marokkos Besatzung der Westsahara – im Kern auch diese beiden Fälle späte Kolonialbesatzungen.
Die kriegführenden Staaten haben sich erst mit Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts mit der rechtlichen Organisation der Besatzung befasst und 1907 in der Haager Landkriegsordnung erste Regeln aufgestellt. Dabei mussten zwei divergierende Interessen in Einklang gebracht werden: das Interesse der Besatzungsmacht an der Sicherheit seiner Truppen und die Interessen der Bevölkerung an der Sicherung erträglicher Lebensbedingungen und der baldigen Beendigung der Besatzung. Nach dem zweiten Weltkrieg haben die Staaten in der IV. Genfer Konvention von 1949 diese Regeln ergänzt und konkretisiert. Sie legalisieren damit in einem begrenzten Umfang und mit speziellen Bedingungen die Besatzung. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass die Regelungen beider Konventionen nur für die zeitlich begrenzte Besatzung nicht aber für eine langanhaltende Dauerbesatzung gelten.

Besatzung „unverteidigter Orte“
Eine Variante der legalen Besatzung haben die Konventionen direkt geregelt, die Besatzung sog. unverteidigter Orte. Die Haager Landkriegsordnung von 1907 hat diese Möglichkeit zum ersten Mal in Artikel 25 definiert: „Es ist untersagt, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln es auch sei, anzugreifen oder zu beschießen.“ Damit war die Möglichkeit der gewaltfreien Besatzung gegeben. So allgemein und unscharf dieser Ausweg formuliert ist, er ist während des Zweiten Weltkrieg von zahlreichen Städten in der Angst vor der brutalen Kriegsführung der Nazis gewählt worden: Rotterdam 1940, Paris, Brüssel, Belgrad 1941, Rom 1943, Orvieto, Florenz, Athen 1944 etc. Nicht immer hat diese Erklärung die Städte vor der brutalen Zerstörung durch die deutsche Armee bewahrt. So wurden Rotterdam und Belgrad von der deutschen Luftwaffe bombardiert. Noch kurz vor Kriegsende im April 1945 konnten sich zwei deutsche Städte, Ahlen und Gotha, erfolgreich vor den Angriffen der Alliierten durch ihre Erklärung zu „offenen Städten“ schützen. Sie wurden besetzt, aber nicht zerstört. Magdeburg hingegen erklärte sich am 7. April 1945 nicht zur „offenen Stadt“ sondern zur Festung, die sich bis zum letzten Blutstropfen verteidigen würde. Nach einem schweren Luftangriff 12 Tage später wurde die Stadt nahezu dem Erdboden gleichgemacht und von den Amerikanern besetzt.
1977 wurde das Konzept vom 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 1949 in Art. 59 fast wortgleich übernommen. Es wurden nur einige Voraussetzungen für die Erklärung in Absatz zwei hinzugefügt: So müssen alle Kombattanten sowie die beweglichen Waffen und die bewegliche militärische Ausrüstung verlegt worden sein. Militärische Anlagen oder Einrichtungen dürfen nicht zu feindseligen Handlungen benutzt werden. Behörden und Bevölkerung dürfen keine feindseligen Handlungen begehen. Schließlich darf nichts zur Unterstützung von Kriegshandlungen unternommen werden.

Grenzen zivilen Widerstands
Mit diesen Besatzungsvorschriften werden zugleich die Grenzen eines zivilen Widerstands beschrieben. Sie sind zweifellos enger als die Grenzen für innerstaatlichen Widerstand. Das folgt schon daraus, dass die Beurteilung, ob ein Protest oder Boykott als „Unterstützung von Kriegshandlungen“ gewertet wird, bei der Besatzungsmacht liegt. In den Kriegen der Nachkriegszeit, vom Koreakrieg über den Vietnamkrieg bis zu den Kriegen gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien spielten „unverteidigte Städte“ als effektiver Schutz vor Zerstörung und Vernichtung faktisch keine Rolle. Das humanitäre Völkerrecht der Haager und Genfer Konventionen ging in den Kampfhandlungen regelmäßig unter. Die zahlreichen Kriegsverbrechen wurden nur im Jugoslawienkrieg und dort vorwiegend nur gegen Serben, Kroaten, Kosovo-Albaner und Bosnier verfolgt. Die Seite der Angreifer, der NATO, blieb ungeschoren. Das Tribunal in Den Haag war schließlich ihr Gericht.
Auch im Krieg Russlands gegen die Ukraine ist von dieser Möglichkeit einer „gewaltfreien“ Besatzung unverteidigter Städte kein Gebrauch gemacht worden. Cherson ist zwar als einzige Stadt offensichtlich ohne militärischen Widerstand und ohne Zerstörungen besetzt worden, hat es dann aber nicht bei gewaltfreien Formen des Widerstands belassen. Für diesen Widerstand mit Waffengewalt gilt das humanitäre Völkerrecht der Haager und Genfer Konventionen. Sie genießen den Status von Kombattanten, wenn sie die Waffen offen tragen. Dann dürfen sie nicht wegen Schädigungshandlungen völkerrechtlich bestraft werden.
Bei einer langandauernden Besatzung wie in Palästina durch Israel oder in der Westsahara durch Marokko ergibt sich das Recht zum Widerstand aus dem Recht auf Selbstbestimmung. Das gilt natürlich für alle Formen des gewaltfreien, zivilen Widerstands, aber auch für den Widerstand mit Waffengewalt. (1) Das wird zwar bestritten (2), ergibt sich aber schon aus dem Recht auf Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Charta, da die israelische Besatzung allein auf Grund ihrer schon Jahrzehnte langen Dauer und den sie permanent begleitenden schweren Kriegsverbrechen illegal ist.
In ihrer Resolution von 1970 (3) hat die Generalversammlung der UNO die Legitimität des Kampfes zur Wiedererlangung des Rechts von Völkern auf Selbstbestimmung, „durch jegliche, ihnen zur Verfügung stehende Mittel“ anerkannt. Einen Monat zuvor hatte die Generalversammlung in ihrer berühmten „Prinzipiendeklaration“ (4) erklärt, dass das Recht auf Selbstbestimmung das Widerstandsrecht gegen Gewaltmaßnahmen umfasst, die kolonial unterdrückte Völker ihres Rechts auf Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit berauben. Sehr deutlich wird schließlich die Generalversammlung in ihrer Resolution von 1973 (5), mit der sie die „Legitimität des Kampfes der Völker für die Befreiung von kolonialer und Fremdherrschaft und ausländischer Unterjochung mit allen verfügbaren Mitteln, einschließlich des bewaffneten Kampfes“ bestätigt. (6)
Wird auch das Recht auf bewaffneten Widerstand vor allem in der Literatur der alten Kolonialmächte immer wieder bestritten, so gilt das nicht für die verschiedenen Formen der Sozialen Verteidigung und des zivilen Widerstandes. Doch werden deren Grenzen von den Besatzungsmächten bestimmt und nur in seltenen Fällen einen vergleichbaren Erfolg wie der Gandhis gegen die britische Kolonialherrschaft erreichen.

Anmerkungen
1 Vgl. Antonio Cassese, International Law, Oxford 2001, S. 322.Richard Falk, Burns Weston, The Relevance of International Law to Palestinian Rights in the Westbank and Gaza: In Legal Defense of the Intifada, Harvard International Law Journal 32,1991, S. 129, 155 f.
2 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Zur Zulässigkeit zivilen Ungehorsams gegen militärische Besatzung aus völkerrechtlicher Sicht, WD2-3000-029/10, v. 24. 10. 2010.
3 UNGV A/Res/2649 (XXV) v. 30. 11. 1970
4 UNGV A/Res/2625 (XXV) v. 24. 10. 1970
5 UNGV A/Res/3103 (XXVIII) v. 12. 12. 1973
6 Vgl auch Gregor Schirmer, Recht auf bewaffneten Widerstand oder Terrorismus? In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 62, Juni 2005

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