Interview

„Die Afghanen müssen sich in den Frieden einarbeiten, sie müssen ihn entdecken“

von Redaktion FriedensForumPhilipp Ingenleuf

Karim Popal, Rechtsanwalt u.a. für internationales Zivilrecht in Bremen, vertritt die Opfer des folgenschweren Luftangriffes im September 2009 bei Kunduz mit wahrscheinlich 139 Opfern. Er ist einer der Mitorganisatoren des Friedenskongresses 2012 „Stoppt den Krieg – Wege zum Frieden in Afghanistan“, der am 13. und 14. Oktober in Bonn stattfindet. Am Rande eines Vorbereitungstreffens sprach Philipp Ingenleuf vom Netzwerk Friedenskooperative mit ihm über die momentane Lange in Afghanistan und die Aussichten auf Frieden.

Red.: Im Mai dieses Jahres sind Sie von Ihrer letzten Afghanistanreise zurückgekehrt. Was waren Ihre Eindrücke, wie steht es um Afghanistan?

Popal: Seit der Übernahme der Mandanten aus Kunduz reiste ich  16 Mal nach Afghanistan. Die Lage in Afghanistan hat sich dramatisch verschlechtert, es herrscht Krieg! Alle Parteien, ob Taliban, Karzai-Regierung oder Amerikaner haben ihre eigenen Forderungen und Interessen, aus diesem Grund ist kaum ein Frieden möglich.

Vor allem die Zivilbevölkerung leidet, in vielen Orten Afghanistan hungern die Menschen. Ich habe beispielsweise ein Dorf in der Provinz Kunduz besucht, in dem Menschen andere Menschen verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Man kann also nur von einer sehr dramatischen Lage in Afghanistan sprechen.

Heute geht es den Menschen noch schlechter als früher. Die Menschen haben heute, wie damals zu Anfang des Krieges vor 33 Jahren, kaum Möglichkeiten ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dies können sie nur, wenn sie mit dem Militär, Aufständischen, Kriminellen oder der NATO zusammenarbeiten. Wer aber nicht mit einer dieser Parteien zusammenarbeiten möchte, kann als normaler Arbeiter oder Bauer lediglich 25-30 Euro im Monat verdienen. Mit diesem geringen Lohn kann man aber weder sich selbst, geschweige denn seine Familie ernähren. Vielen Menschen bleibt also kaum eine Wahl.

Red.: Wie sehen Sie die Perspektiven Afghanistans nach dem Abzug der NATO-Kampftruppen 2014?

Popal: Die NATO und die Amerikaner versuchen die Lage in Afghanistan so darzustellen, dass, wenn die Truppen 2014 abziehen, die Afghanen aufeinander losgehen würden. Das ist nicht richtig. Richtig ist, dass wir Afghanen alle kriegsmüde sind, dass wir keinen Krieg mehr möchten. Alle Afghanen wünschen sich Frieden und Freiheit. Aber insbesondere durch den Krieg und die Anwesenheit der NATO in Afghanistan wird der Wunsch der Menschen nach Frieden verhindert.

Red.: Was muss neben dem Abzug in Afghanistan getan werden, um einem Frieden näher zu kommen?

Popal: Die verschiedenen Völker und Gruppen Afghanistans müssen zusammenrücken. Ich sehe mit Freude, dass sich zum Beispiel Anhänger von Hekmatyar mit Kommunisten zusammensetzten und eine Lösung in Afghanistan diskutieren. Man muss die wahren Afghanen ansprechen, man muss überparteilich an die Sache herangehen, damit endlich Frieden in Afghanistan einkehrt. Wenn die Afghanen allein unter sich gelassen werden, dann sind alle Afghanen optimistisch, dass sie eine bessere Welt finden werden als in den letzten Jahren unter der Besatzung der NATO.

Red.: Was muss getan werden für eine friedliche Entwicklung Afghanistans? Welche Rolle kann Ihrer Meinung nach die Zivilgesellschaft spielen?

Popal: Die Zivilgesellschaft spielt eine Schlüsselrolle in Afghanistan. Sie ist davon überzeugt, dass man mit allen Mitteln für den Frieden arbeiten muss. Aber eine wirklich funktionierende Zivilgesellschaft ist nur möglich ohne Krieg.

Das große Problem der Zivilgesellschaft ist, dass sie in Afghanistan unter den momentanen Gegebenheiten nur schwer arbeiten kann. Es ist zum Beispiel sehr schwer, außerhalb von Kabul zu arbeiten. Durch den Krieg der letzten Jahrzehnte gibt es viele Hindernisse und Rückschläge. Viele Afghanen sind sich sicher, dass NATO und der Westen nicht die Absicht haben, die Zivilgesellschaft in Afghanistan aktiv zu unterstützen und zu stärken. Man kann den Aufbau der Zivilgesellschaft und Demokratie zum Beispiel nicht dadurch erreichen, dass man Kriegsverbrecher in die Regierung setzt, wie z.B. den stellvertretenden Präsidenten Fahim, den Minister für Elektrizität Esmail Khan oder Dostum, um nur einen dieser zahlreichen Gouverneure zu nennen.

Red.: Sehen Sie die Möglichkeit für eine afghanische Friedensbewegung? Was sind Hindernisse? Was könnte erreicht werden?

Popal: Es gibt  seit 33 Jahren Krieg. Millionen Menschen haben ihr Leben verloren. Es gibt 14 Millionen Flüchtlinge, davon 7 Millionen in Pakistan und Iran, sowie 7 Millionen interne Flüchtlinge, die aus den Dörfern in die Städte fliehen. Wenn man sich  diese dramatischen Zahlen anschaut, dann weiß man, wie dringend Frieden von Nöten ist. Deswegen müssen sich die Afghanen zusammensetzen und eigenständig ihre Konflikte friedlich lösen. Die Afghanen müssen sich in den Frieden einarbeiten, sie müssen ihn entdecken.

Ein Hindernis für Frieden ist sicherlich dem sogenannten Partei- oder Organisationsegoismus geschuldet. Aber mittlerweile sieht man, dass die Afghanen politisch bewusster geworden sind und dies ablegen. Viele erkennen, dass nicht eine Partei alleine in Afghanistan regieren kann. Keine Organisation, weder ehemalige Kommunisten, noch islamistische Parteien, noch die Partei von Hekmatyar oder die Taliban, können alleine regieren.

Die Afghanen sind mittlerweile in der Lage, miteinander zu reden. Es ist wichtig, eine Friedenstoleranz zu erreichen, damit wir in der Lage sind durch Gespräche und durch Diskussionen zusammenzukommen.

Red.: Sie vertreten u.a. auch die Opfer des folgenschweren Luftangriffes auf Zivilisten bei Kunduz mit wahrscheinlich 140 Toten. Wie ist der momentane Stand?

Popal: Die Lage hat sich verschlechtert, allmählich haben die NATO und die Bundesregierung die Opfer vergessen. Sie dachten, wenn sie 2.000 – 3.000 Dollar Entschädigung pro Familie zahlen würden, sei die Sache erledigt. Tatsächlich leiden die Menschen aber immer noch an den Folgen des Luftangriffes. Viele junge Witwen sind von ihren männlichen Familienangehörigen verkauft worden. Ich habe schon kurz nach dem tragischen Luftangriff vorgeschlagen, dass man Projekte starten müsse, um den Waisen und Witwen zu helfen. Die Waisenkinder leiden beispielsweise immer noch Hunger.

Zurzeit ist die Klage beim Landgericht Bonn anhängig. Wir gehen davon aus, dass es bald einen Termin geben wird, wir die Zeugen präsentieren und das streitige Verfahren fortsetzen können.

Die Anträge des Bundesverteidigungsministers und seiner Anwälte in dem Verfahren waren teilweise lächerlich, man muss es leider so sagen. Die Anträge lauteten zum einen, dass das Verfahren für lange Zeit ausgesetzt werden solle, und zum anderen, dass eine sogenannte Auslandssicherheit gezahlt werden muss. Eine Auslandssicherheit sichert die Gebühren der von dem Bundesverteidigungsminister beauftragten Rechtsanwälte ab. Diese könnten unsere Mandanten, die an der Existenzgrenze leben, jedoch gar nicht tragen.

Red.: Was versprechen Sie sich von dem Friedenskongress 2012 „Stoppt den Krieg – Wege zum Frieden in Afghanistan“?

Popal: Der Kongress ist ein positiver Schritt in die richtige Richtung. Ich sehe den Kongress als eine große Chance, dass Organisationen und Menschen im Sinne der Völkerverständigung zusammenkommen und über Frieden in Afghanistan diskutieren.

Der Kongress ist aus meiner Sicht auch der erste Schritt, den man von Freunden in der Weltgemeinschaft erwarten darf. Dies ist wahre Freundschaft. Und nicht, dass man versucht, seine eigenen Ziele und Interessen durchzusetzen, wie es so viele Länder in Afghanistan versuchen.

Der Friedenkongress hat schon jetzt gezeigt, dass es möglich ist, dass verschiedene afghanische Organisationen und Menschen zusammenarbeiten können, obwohl sich diese in den letzten 33 Jahren teilweise weigerten, miteinander zu reden. Bei einem von mir organisierten Treffen in Bochum zur Vorbereitung des Kongresses habe ich dies zum ersten Mal festgestellt. Bei dem Treffen waren beispielsweise Vertreter von Hizb-i Islāmi und Vertreter von sogenannten Partschamies (Anhänger von Babrak Karmal/ ehemalige Volkspartei), die sich gemeinsam an einen Tisch gesetzt und geredet haben. Dies ist eine sehr positive Entwicklung und ein großer Schritt für Frieden in Afghanistan.

Der Kongress in Bonn gibt zahlreichen afghanischen Menschen und Organisationen Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

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Geschäftsführer und Kampagnenkoordinator beim Netzwerk Friedenskooperative sowie Co-Sprecher der Kooperation für den Frieden.